Perry Rhodan Neo 032 – Der schlafende Gott
tauchte über ihr auf. Sie blickte den Gorrer an. Sein Gesicht schob sich langsam über die Öffnung, ein heller Fleck in Staub und Dunkelheit. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den Emkhar-Tuur nicht deuten konnte. War es Hass? Genugtuung?
Um sie herum wurden die Geräusche leiser. Das Gröbste schien überstanden zu sein; kleinere Steine fielen auf den Boden der Kaverne, als wäre ein Sturm abgeflaut und wartete mit letzten Hagelkörnern auf.
Emkhar-Tuur spürte, wie ihr Handschuh abrutschte. Die Finger der linken Hand lösten sich einer nach dem anderen. Sie schloss die Augen und erwartete, den Halt endgültig zu verlieren, als sie Ralvs schmale Hände auf ihren fühlte. Er umklammerte ihr Gelenk. Tat er es ebenso instinktiv, wie sie den Stein zur Seite geschmettert hatte, der auf ihn zugesaust war? Sie wusste es nicht, suchte in seinem Gesicht nach einer Antwort. Der Helmscheinwerfer ließ das Blut aufleuchten, das Ralv über Nase und Wange lief und vom Kinn tropfte.
Emkhar-Tuur verzog die Schnauze und bildete ein Lächeln nach, wie sie es auf Ralvs Lippen gesehen hatte. »Lass schon los, Weichhaut. Das willst du doch.«
Ralv betrachtete sie mit großen Augen. »Du solltest um dein Leben betteln!«
»Das macht ihr vielleicht. Ihr kommt mit nassen Augen aus dem Mutterbauch gekrochen und geht mit verwässertem Blick zu eurer Thora.« Sie zischte leise. »Der Tod ist Teil des Lebens, fürchte ihn nicht. Und nicht seinen Bruder, das Sterben. Denn alles, egal ob stark oder schwach, geht vom Nichtsein ins Sein und aus diesem heraus«, zitierte sie eine Stelle des Ausbildungshandbuchs für junge Topsider.
Ralv war eindeutig in der besseren Position. Seine Lage nicht zu nutzen wäre dumm. Sicher würde er sie fallen lassen. Da war es doch besser, dem zuvorzukommen und in Würde zu sterben. Emkhar-Tuur wog in einer Mischung aus Trotz und Angst ab, einfach loszulassen. Ralv würde das Gewicht allein nicht halten können, und wie es aussah, konnten weder Hisab-Benkh noch ihre Schwester zu Hilfe kommen, sonst hätten sie das längst getan.
Sie dachte an Tisla-Lehergh und den Spaß, den sie zusammen gehabt hatten. Alle Zeit im Universum ist bloß geliehen. Der Starke geht im Geruch des Mutes. Eine traurige Duftnote machte ihr den Abschied leichter. Sie öffnete einen der Finger, dann den zweiten.
»Nicht!« Ralv packte ihr Gelenk fester. »Verrücktes Ei-Monster! Ich hol dich raus.«
Emkhar-Tuur blinzelte. Verspottete der kleine Säuger sie in Anbetracht ihres Todes? Was für ein Frevel! Sie sammelte Nasensekret, um es gegen sein Kinn zu spucken – und hielt verwirrt inne. Inzwischen kannte sie einige der mimischen Ausdrucksmöglichkeiten Ralvs. Als er das Esram gehalten hatte, lagen Spott und Genugtuung in seinen Zügen. In diesem Moment sah er ganz anders aus. Hoffnung wuchs in ihr. Meinte er, was er sagte?
»Halt dich fest!«, rief er. »Ich ziehe Seil!«
Während Emkhar-Tuur sah, wie sich das Seil um ihre Hüfte straffte und Ralvs Gesicht sich vor Anstrengung dunkler verfärbte, spürte sie etwas Neues: eine Empfindung, so heftig, als würden Esrams an den Innenwänden ihrer Mägen nagen. Es war nicht schuld, aber auf rätselhafte Weise damit verwandt. Konnte das Scham sein? Sie hatte darüber mal etwas gelesen, und auch Hisab-Benkh hatte es schon thematisiert. Manche Topsider kannten es aus eigener Erfahrung.
Emkhar-Tuur ruckte ein winziges Stück in die Höhe. Ralv gab ihr ein Zeichen. Einen Augenblick zögerte sie. Vielleicht hatte Ralv das andere Ende um seine Hüfte gelöst und wollte sie endgültig in den Abgrund schicken, indem er losließ. Sie klammerte sich fest und hievte sich nach oben. Das Seil gab unter der Belastung ein Stück nach – Emkhar-Tuur sah sich schon zerschmettert am Grund liegen –, dann hielt es sie, und sie konnte sich hinaufziehen. Mit einem Röcheln schob sie den Oberkörper über die Bruchkante, bis sich in ihr das beruhigende Gefühl ausbreitete, in Sicherheit zu sein.
Ralvs Gesicht tauchte neben ihrem auf. »Gleich geschafft!« Er streckte ihr eine Hand entgegen und half ihr ächzend auf den steinigen Grund.
Emkhar-Tuur zog sich das letzte Stück selbst hinauf, erreichte den Boden und blieb einen Augenblick liegen.
Ralv stand, die Hände auf den Knien aufgestützt, keuchend vor ihr und starrte sie an.
Sie starrte zurück. »Warum?«, fragte sie. Verwirrung überkam sie wie eine Woge und etwas, das sie nie geglaubt hatte, für einen Humanoiden fühlen zu können:
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