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Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Titel: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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der Autorschaft . (2) Ich habe den zwingenden Eindruck, ich könnte unter identischen sonstigen Bedingungen auch anders handeln, wenn ich nur (anders) wollte. Dies nennt man in der Philosophie und der Rechtstheorie Alternativismus .
    Philosophisch gesehen ist dieses Gefühl deshalb interessant, weil es anzudeuten scheint, dass ich mit diesem »freien« Willen die im Naturgeschehen einschließlich der Vorgänge in meinem Körper und Gehirn ansonsten herrschende naturgesetzliche Kausalität außer Kraft setzen kann. Nach dieser Kausalität müssen unter identischen Bedingungen Vorgänge identisch ablaufen – eine »Freiheit« im Sinne des Alternativismus kann es daher nicht geben! Willensfreiheit in dem oben definierten Sinne erscheint also unvereinbar, inkompatibel , mit einer deterministischen Weltauffassung. Daher nennt man auch die traditionelle Auffassung von Willensfreiheit »Inkompatibilismus«.
    Dies könnte man als rein philosophisches Problem betrachten, denn im Alltag dürfte es uns gleichgültig sein, ob wir tatsächlich frei sind oder uns nur frei fühlen ! Menschen – so der bereits mehrfach zitierte schottische Philosoph David Hume – fühlen sich frei, wenn sie tun können, was sie wollen . Die Bedingtheit ihres Willens spüren sie in aller Regel nicht, es sei denn, jemand litte unter Zwangserkrankungen wie Kontrollzwang, Waschzwang und Zwangsgedanken. Allerdings gibt es einen wichtigen Bereich, in dem dieses Problem eine entscheidende Rolle spielt, nämlich das Strafrecht (und darüber hinausgehend das Rechtssystem überhaupt, zum Beispiel das Vertragsrecht – aber hierauf möchte ich nicht eingehen).
    In der Tat stellt der geschilderte alternativistische Begriff von Willensfreiheit eine wesentliche Grundlage unseres Strafrechts dar. Nach weithin akzeptierter Auffassung ist ein Straftäter deshalb schuldig, weil er eine rechtswidrige Tat begangen hat (z. B. indem er etwas gestohlen oder gar jemanden ermordet hat), obwohl er sie auch hätte lassen können, wenn er dies nur gewollt hätte . Er hatte die Möglichkeit der freien Wahl zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Tun, und er hat sich gegen das Recht und für das Unrecht entschieden. Genau das wird ihm vor Gericht vorgeworfen. Können er oder seine Verteidiger dagegen glaubhaft machen, dass er eine solche freie Wahl nicht hatte (zum Beispiel weil er gar nicht wusste, was er tat, unter Drogen stand oder psychisch krank war bzw. ist), dann kann er auch gar nicht für diese Tat verantwortlich gemacht werden – er ist dann »schuldlos«. Dies ist im § 20 des deutschen Strafgesetzbuches geregelt, der festlegt, dass ein Täter nicht schuldig ist, wenn er unter schweren psychischen Erkrankungen oder einer hirnorganischen Störung leidet. Wichtig ist allerdings, dass die Mehrzahl der von mir in Kapitel 9 genannten Faktoren nicht unter § 20 fällt; ganz im Gegenteil wird bei solchen Gewaltstraftätern, z. B. pädophilen Mördern, eine »besondere Schwere der Schuld« festgestellt.
    Bei dieser rechtstheoretisch-philosophischen Begründung strafrechtlicher Schuld erkennt man von Seiten der Strafrechtstheoretiker durchaus an, dass wir in unserem Handeln niemals völlig frei sind. Ein auf der Grundlage des Alternativismus argumentierender Strafrechtler wird im Zweifelsfalle all die in Kapitel 9 beschriebenen Faktoren berücksichtigen, die jemanden mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Gewaltstraftäter machen, also Gene, Hirnentwicklung, frühkindliche Prägung und spätere Sozialisation. Er wird aber darauf bestehen, dass es jenseits und trotz aller motivationalen Determiniertheit einen Bereich gibt, in dem wir tatsächlich frei sind, nämlich den Bereich der moralisch-sittlichen Entscheidungen, wie dies der Begründer des modernen Willensfreiheitsbegriffs, der Philosoph Immanuel Kant ausgeführt hat. Diese Freiheit beruht danach im moralisch-vernünftigen Abwägen der uns möglichen Handlungen und ihrer Konsequenzen im Lichte unseres Rechtsbewusstseins: Es musste dem Straftäter aufgrund seines (einem jeden Menschen angeborenen) Rechtsbewusstseins klar sein, dass Diebstahl oder Mord ein Unrecht darstellen und dass er hierfür – wenn seine Untat entdeckt wird – auch bestraft wird. Trotz dieser Einsicht hat er die Tat begangen, und das macht ihn schuldig.

Die Unzulänglichkeiten des traditionellen Willensfreiheitsbegriffs
     
    Der soeben geschilderte Begriff der Willensfreiheit und der darauf aufbauende strafrechtliche Begriff der Schuld haben

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