Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
(sonst wird man vom vielen Rotwein alkoholkrank, oder der Bücherschrank quillt vor Bildbänden über), man variiert die Art der kleinen Belohnungen (auf keinen Fall große Belohnungen, die führen zur Habituation). Dies tut man, bis diejenigen Dinge, die man zuvor vor sich her geschoben hat, zu Routineangelegenheiten werden. Eine der interessantesten Selbsterfahrungen ist die Tatsache, dass einem Dinge, vor denen einem gegraut hat (z. B. Gutachten zu schreiben), flott von der Hand gehen, nachdem man sie einmal angepackt hat.
Das Grundprinzip besteht darin, emotionale Schwierigkeiten durch Automatisierung und Routinisierung zu beheben. Zu Beginn muss ich mir leuchtende Vorbilder wählen, mir ebenso leuchtende Ziele setzen, mir kleine Belohnungen für kleine Fortschritte ausdenken, um dann von diesen Starthilfen immer unabhängiger zu werden. Dies wirkt auch bei den depressiven Phasen, die fast jeder von uns gelegentlich erlebt (ich rede nicht von chronischer Depression, bei der man wochenlang buchstäblich »schwarz sieht« und keinerlei Lebenswillen mehr hat. Dies bedarf einer Behandlung durch den Arzt und/oder Psychotherapeuten). Eine sehr gute Medizin gegen Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit ist die tägliche Routine plus kleiner Selbstbelohnungen (sonst macht einen die Routine noch depressiver).
Wir sehen also: Man kann sich durchaus ändern, wenn man in seinen Ansprüchen bescheiden ist und es richtig macht. Man kann es lernen, seine Impulse und seine Ungeduld zu zügeln, sich selbst zu motivieren, Durststrecken zu überstehen, sich selbst zurückzunehmen, selbstgenügsam zu werden, aber auch mehr Ehrgeiz, mehr Ordnung, mehr Pünktlichkeit zu zeigen. Leider funktioniert all das aber nur, wenn die eigene Persönlichkeitsstruktur es zulässt.
KAPITEL 16
Persönlichkeit und Freiheit
In den bisherigen Kapiteln dieses Buches habe ich dargestellt, in welcher Weise Entscheidungen von den überwiegend unbewussten Anteilen der Persönlichkeit gesteuert werden und dass es diese unbewussten Anteile sind, die eine Veränderung des Verhaltens nur in engen Grenzen zulassen und Selbsterkenntnis und Selbstveränderung fast unmöglich machen. Das Goethe-Wort »Werde, der du bist!« erhält durch die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung, Psychologie und Psychotherapieforschung über die frühe Verfestigung der Grundzüge unserer Persönlichkeit eine ganz neue Bedeutung. Daraus resultiert die Einsicht, dass der Rahmen der Veränderbarkeit der Menschen schmal ist, und zwar umso schmaler, je substanzieller die Veränderungen sind, um die es geht. Ich habe aber auch gezeigt, dass Veränderungen möglich sind, ja dass man sich sogar selbst verändern kann, wenn man es richtig macht. Substanzielle Veränderungen sind aber nur über starke emotionale oder lang anhaltende Einwirkungen möglich.
In diesem Zusammenhang stellt sich fast zwangsläufig die Frage, wie frei wir in unseren Entscheidungen und unserem Handeln überhaupt sind. Gibt es so etwas wie Willensfreiheit, oder sind wir durch Gene, frühkindliche Prägung und spätere Sozialisation vollkommen determiniert? Diese Frage wird in der einen oder anderen Form diskutiert, seit es Philosophie gibt, und diese Diskussion ist vor einigen Jahren wieder heftig aufgeflammt. Schuld daran waren Experimente, die der amerikanische Neurobiologe Benjamin Libet schon vor über zwanzig Jahren durchgeführt hat und die in zahlreichen Varianten wiederholt wurden, mit ungefähr demselben Ergebnis: Unser Gehirn – so scheint es – entscheidet unbewusst, bevor unser bewusstes Ich glaubt, selbst entscheiden zu können (vgl. Roth, 2003; Pauen und Roth, 2008). Dies hat viele Menschen – Laien wie Experten – beunruhigt und die Frage aufgeworfen: Ist die Existenz von Willensfreiheit damit naturwissenschaftlich widerlegt? Zugleich kommt die Frage auf: Kann man denn eine solche philosophische Frage überhaupt naturwissenschaftlich untersuchen?
Worum geht es überhaupt bei der Debatte
um die Willensfreiheit?
Unmittelbarer Ausgang der Diskussion um die Willensfreiheit ist die unbezweifelbare Tatsache, dass wir bei einem bestimmten Typ von Handlungen, die man Willenshandlungen oder Willkürhandlungen nennt (vgl. Kapitel 7), das Gefühl haben, frei zu sein. Dieses Gefühl ist im Wesentlichen durch zwei Inhalte bestimmt: (1) Ich als bewusst denkendes und agierendes Wesen empfinde mich als Träger meines Willens und als Verursacher meiner Handlungen. Dies nennt man das Gefühl
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