Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Entscheidungen, die wir jemals bewusst getroffen haben, und die Bewertungen ihrer Konsequenzen. Diese Inhalte verdichten sich mit der Zeit immer mehr zu Intuitionen, die uns in ähnlichen Situationen raten, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, oder die uns vor irgendetwas warnen.
Der Gesamtinhalt des Vorbewussten ist natürlich gegenüber der Kapazität des bewusstseinspflichtigen Arbeitsgedächtnisses riesengroß, selbst wenn wir dem Arbeitsgedächtnis Zeit lassen, Gesichtspunkte nacheinander abzuarbeiten. Dies liegt an der – technisch ausgedrückt – großen Datenkompression des Vorbewussten: Wir könnten die zahllosen einzelnen Erfahrungen, die wir in unserem Leben einmal gemacht haben, gar nicht detailliert und mit Bewusstsein durchgehen, um daraus für die aktuell anstehende Entscheidung irgendeine Hilfe zu gewinnen. Das Vorbewusstsein gibt uns hochgradig komprimierte Kurzmitteilungen, so wie ein Experte uns auf Anhieb sagen kann, ob eine von uns ins Auge gefasste Lösung auch wirklich gut ist. Der Experte kann dies eben aufgrund seiner großen Erfahrung, und er weiß meist gar nicht genau, wie er das eigentlich macht.
Persönlichkeit und Entscheidung
Das Bewusstsein befindet sich in den Händen des Vorbewussten. Dieses filtert alles, was ins Bewusstsein drängt, und stellt damit einen »Zensor« dar, wie Sigmund Freud es genannt hat. Das Vorbewusste produziert die Versprecher, Träume und Fehlleistungen unseres Alltags. Es befindet sich zum großen Teil wiederum in den Händen des Unbewussten, d. h. den Strukturen und Inhalten des subcorticalen limbischen Systems. Dieses System gibt vor, wie sich die Strukturen und Inhalte des thalamo-corticalen und hippocampo-corticalen Systems als Träger des Vorbewussten entwickeln. Dabei bleiben Dinge »namenlos«: Sie treiben uns an, ohne dass wir von ihnen direkt erfahren. Deshalb sind unsere Entscheidungen umso mehr Entscheidungen unserer unbewussten Persönlichkeit, je wichtiger sie sind. Wir sind mit unseren Entscheidungen nur dann zufrieden, wenn sie ihren Grund in den tiefer liegenden limbischen Ebenen unserer Persönlichkeit haben. Unsere Persönlichkeit legt auch fest, in welchem Maße bei unseren Entscheidungen Rationalität eine Chance erhält.
EXKURS 3
Wie veränderbar ist der Mensch?
Ein zweiter Blick in die Kulturgeschichte
In der Ideen- und Kulturgeschichte des Westens hat man die Frage nach der Veränderbarkeit des Menschen ganz unterschiedlich beantwortet. Die seit der Antike bis in das späte 19. Jahrhundert hinein vorherrschende Vorstellung war diejenige der »Ent-Wicklung« – es entwickelt bzw. entfaltet sich etwas, das zuvor im Keim, in der Anlage bereits da war. In den Sokratischen Dialogen Platons heißt es sogar, es gebe gar keinen Erwerb neuen Wissens, sondern dieses Wissen liege bereits in jedem Menschen angeboren vor und müsse durch den Lehrer nur hervorgeholt werden, so wie die Hebamme hilft, dass das Kind auf die Welt kommt. Auch der Mensch hat seine Erbanlagen (wie diese genau aussehen, wusste man allerdings nicht), die ihn weitgehend bestimmen, und so entwickelt sich seine Persönlichkeit in denjenigen Bahnen, die bereits zu Beginn feststehen. Am eindrucksvollsten hat Goethe dies in dem Gedicht »Daimon« ausgedrückt:
Wie an dem Tag der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Goethe selbst hat durchaus das Wechselspiel zwischen Anlage und Umwelt gesehen, wenn er 1828 im Gespräch mit Eckermann feststellte: »Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwicklung verdanken wir tausend Einwirkungen aus einer großen Welt, aus der wir uns aneignen, was wir können und was uns gemäß ist.« Es besteht aber kein Zweifel daran, dass Goethe den Schwerpunkt auf Selbst-Entwicklung legte und die Funktion der Umwelteinflüsse darin sah, die verborgenen Fähigkeiten (»was wir können und was uns gemäß ist«) ans Licht zu holen. Selbstverständlich war der Gedanke der biologischen Evolution, wenn er denn überhaupt gedacht wurde, vor Darwin derjenige der Entwicklung innerhalb vorgegebener Bahnen. Erst die Evolutionstheorie Darwins beinhaltet die seinerzeit revolutionäre Vorstellung, es könne eine stammesgeschichtliche
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