Perth
hoch im Brunnen und war so klar wie eh und je, so dass es auch damals noch das ganze Dorf hätte versorgen können. Aber es gab ein altes Statut, das Folgendes besagte: Wenn neunundzwanzig Jahre lang kein Dorfbewohner den Brunnen nutzte, konnte er in das Grundstück des nächstgelegenen Cottages integriert werden und würde ab dem Zeitpunkt zu diesem Grundstück gehören. Und genau das geschah. Das nächstgelegene Haus war das Appletree Cottage, und als wir es kauften, befand sich der Brunnen schon seit langem innerhalb der Hecke.
Das Problem war, dass die früheren Besitzer sich nicht um den Brunnen gekümmert hatten und die hölzerne Abdeckung verrottet war. Niemand hatte uns von dem Brunnen erzählt, und wir bemerkten ihn nicht einmal, als wir einzogen, da er von Pflanzen überwuchert war. Abgesehen von ein paar modrigen Brettern, die auf der ein Meter breiten Brunnenöffnung lagen, war auf dem Boden kaum etwas davon zu erkennen. Die Bretter würden dem Gewicht eines Hundes nicht standhalten, und erst recht keinem Menschen, der das Pech hatte, inmitten der Pflanzen zufällig draufzutreten.
Vom ersten Moment unseres Einzugs hatte Perth natürlich neugierig alles erkundet. Sie musste daher bereits ein paar Mal auf die morschen Bretter gestiegen sein. Nichts passierte, aber früher oder später wäre sie hineingefallen und ertrunken, wenn sich nicht ein zurückhaltender Farmer, der wie bereits Generationen seiner Familie in dem Dorf aufgewachsen war und ein Stückchen weiter an derselben Straße wohnte, mitten in der Nacht heimlich in den Vorgarten geschlichen hätte. Ohne uns etwas davon zu sagen, ersetzte er das morsche Holz durch eine dicke, stabile Eichenplatte. Auf seiner Farm befindet sich ebenfalls ein tiefer Brunnen, und später erfuhren wir, dass sein Sohn zehn Jahre zuvor hineingefallen und dabei umgekommen war. Als er hörte, dass eine neue Familie einzog, nahm er es auf sich, unseren Brunnen sofort abzudecken. Darüber hinaus beseitigte er den Bewuchs, so dass der Brunnen gut sichtbar wurde. Wir sahen den Brunnen am nächsten Morgen und wussten, dass ein guter Geist aus dem Dorf das getan hatte. Der Farmer, der später ein guter Freund von uns wurde, dachte an die Kinder, die wir möglicherweise hatten, nicht an Perth. Aber auf diese Weise rettete er sie, da sie sonst sicherlich innerhalb von ein oder zwei Tagen unbemerkt und unentdeckt in den Tod gestürzt wäre. Ich hatte ihr nie beigebracht, tiefen Brunnen fernzubleiben.
Als im Juni die Handwerker das Haus herrichteten, entschlossen wir uns, einen Urlaub im schottischen Hochland einzuschieben. Es sollte ein nostalgisches Wiedersehen mit dem Land sein, das Perth ihren Namen gab. Wir hatten noch Zeit vor der Geburt unseres Babys. Wir fuhren ins westliche Hochland hinauf und wohnten in einer Jugendherberge am Fluss Dee mitten in den Grampian Mountains. Es war ein Steinhaus mit nur einem Raum und einem Schieferdach. Eine einsamere Herberge kann man sich kaum vorstellen. Wir begegneten niemandem. Es gab keinen Strom, daher mussten wir über einem offenen Feuer kochen, und nachts zündeten wir Kerzen an. Im Haus gab es auch keine Toilette. Die Betten bestanden aus dünnen Matratzen auf dem Dachboden, den man über eine Leiter erreichte. Da Perth darauf bestand, bei uns zu schlafen, musste ich sie die Leiter hinauftragen. Da waren wir nun, neben einem rauschenden Fluss mit kristallklarem Wasser, umgeben von felsigen, grünen Bergen, und hörten keine menschlichen Stimmen, außer unseren eigenen. Wir wollten ursprünglich eine Woche bleiben, aber das Wetter war traumhaft, daher verlängerten wir auf zwei Wochen. Der Fluss Dee kommt hoch aus den Grampians und fließt zügig in einer Abfolge von Stromschnellen, Gumpen und Bögen durch üppige Weiden und dichte Wälder Richtung Osten. Überall waren Schafe. Bei der Jugendherberge war der Fluss flach und eiskalt. Aber in der Sonne überredeten wir uns hineinzuspringen. Das Wasser schoss über die Felsen dahin und Perth paddelte heftig gegen die Strömung an. Sie kletterte auf Felsvorsprünge und stellte sich so hin, dass das Wasser ihr mit einem lauten Schwall auf Kopf und Rücken platschte. Wir drei machten lange, einsame Wanderungen in den Wäldern und an den Berghängen entlang, durch die wildeste mit Stechginster und Heide bewachsene Landschaft, die ich je in Großbritannien gesehen hatte. Aber es gab Tage, an denen Perth ganz alleine unterwegs war. Wir wussten nie, wo sie war. Nur einmal begegneten wir ihr
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