Pesch, Helmut W.
Zeit der Welt.
Dann schienen sie zu Statuen zu erstarren, Wächtern gleich, die auf ein Ereignis warteten.
»Wir sollen doch wohl nicht in die Höhle gehen?«, fragte Siggi und brach das Schweigen.
»Ich weiß nicht«, sagte Hagen. »Eigentlich will ich nicht. Es ist…«
In die Herzen der drei schlich sich wieder für einen Moment der Schatten der Furcht und des Zweifels.
»Kommt«, ertönte da die vertraute Stimme des Mannes mit dem Schlapphut, dem Umhang und dem Stab. »Kommt herein!«
Wie unter einem geheimnisvollen Zwang setzten sich die Kinder in Bewegung. Die Angst und die Bedenken waren wie weggeblasen.
In diesem Moment schien die Wolkendecke zu zerreißen, der Nebel wurde durch eine gewaltige Bö weggefegt und das Licht der un-tergehenden Sonne fiel in die Höhleneingang.
Siggi, Gunhild und Hagen traten in die Höhle, welche sich als langer Tunnel entpuppte, der nach wenigen Metern einen Knick machte. Der Gang war über zwei Meter hoch. Die letzten Sonnen-strahlen zeigten ihnen den Weg. Dann kamen sie um den Knick herum, und das Licht von draußen verließ sie.
Aber dennoch war es nicht völlig dunkel. Von den Wänden der Höhle ging ein fahles Glimmen aus, matt, aber hell genug, dass man die Hand vor den Augen sehen konnte.
Plötzlich spürte Siggi einen Luftzug über sich. Die Raben strichen über sie hinweg ins Höhleninnere. Er versuchte, sie mit den Augen zu verfolgen, aber die schwarzen Leiber verschmolzen allzu bald mit dem dunklen Hintergrund.
Die Höhle reichte weit in den Berg hinein, weiter, als man es erwartet hätte. Je tiefer sie vordrangen, desto heller wurde das Glimmen, das sie umgab. Sie konnten nun Einzelheiten ausmachen. Die Wände waren aus grauem Stein und schienen teils künstlichen, teils natürlichen Ursprungs zu sein. Hier und da glaubte man, Meißel-spuren zu erkennen, doch diese gingen in den gewachsenen Fels über, ohne dass man feststellen konnte, wo jener begann. Doch keiner der drei machte eine Bemerkung darüber; wie im Traum gingen sie weiter.
Dann machte der Gang eine weitere scharfe Biegung und weitete sich zu einer Kammer. In diese Kammer mündete von außen nur der Gang, durch den Siggi, Gunhild und Hagen traten, aber auf der anderen Seite führten zwei Öffnungen, die sich in den Ecken der gegenüber liegenden Wand auf taten, in die Tiefe.
Als Erstes fielen Siggi die Raben auf, die auf einem Felsvorsprung einträchtig nebeneinander hockten. Sie sahen ihn an, und es schien ihm, als wären dies eher Zauberwesen denn wirkliche Vögel.
Die vertraute Silhouette ihres Retters stand neben den Felsvorsprung mit den Raben. Keiner der drei Kinder fragte sich, wieso der Mann nach ihrer wilden Flucht durch den Wald vor ihnen hatte hier sein können. Er war eben einfach da. Er stützte sich auf seinen Stab und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen. Ebenso grau wie der Hut war der weite Umhang, der seine Gestalt umhüllte. Langsam wandte der Mann den Kopf, drehte sich betont ruhig zu ihnen um und sah sie an.
Siggi, Gunhild und Hagen fuhren erschrocken zurück. Der Mann, der sie mit Hilfe der Raben im Wald vor den Zwergenwesen gerettet hatte, besaß nur ein Auge.
3
Ymirs Brut
Der Mann lächelte. Sein Lachen war nicht unsympathisch, auch wenn es so wirkte, als habe er es lange nicht mehr gebraucht. Siggi sah, dass er schon alt sein musste. Graues Haar kam unter dem Hut hervor und fiel locker auf seine Schultern, Falten durchzogen sein Gesicht. Die Nase stach hervor wie der Schnabel eines Adlers. Er hätte ein eindrucksvoller alter Herr sein können, wäre da nicht das fehlende Auge gewesen! Über der Höhle des linken Auges fiel die ledrige Haut des Lides ein, und es war deutlich zu sehen, dass darunter kein Augapfel war.
»Es sieht erschreckender aus, als es ist. Ich will euch nicht fressen.« Die tiefe Stimme des Mannes klang belustigt, als er in die Gesichter der Kinder sah. Und er schien zu wissen, wohin die drei starrten.
»Entschuldigung«, stammelte Gunhild. »Es tut uns Leid, dass …«
Wieder schmunzelte der Alte; er schien sich prächtig über seine kleinen Gäste zu amüsieren, die verlegen vor ihm standen und nicht wussten, was sie sagen sollten und ihren Blick doch nicht von seinem Gesicht lassen konnten.
»Lasst gut sein, Kinder. Es fällt eben wirklich auf, oder nicht? Daran erkennen mich manche immer noch. Dabei ist es eine Ewigkeit her«, und aus der Stimme des Alten glaubten Siggi eine Trauer zu hören, die unendlich lange
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