Pesch, Helmut W.
Schrecklichen; denn es geht hier um den Baum, den man Yggdrasil, Yggs Streitross, nennt, und wie dieser zu seinem Namen kam. Man nennt ihn auch die Weltenesche.«
»Wo kommt die jetzt auf einmal her?«, fragte Siggi, der bei den ganzen alten Geschichten irgendwie den Überblick verloren hatte.
»Ich habe keineswegs die Absicht, euch zu sagen, woher der Weltenbaum kam«, meinte der Graue verärgert. »Er ist einfach da. Ihr könnt ihn nicht sehen, aber ihr dürft mir glauben, dass es ihn gibt.
Denkt einfach an eine Kraft, die so ist wie die Anziehungskraft zwischen einem Magneten und einem Stück Eisen. Man kann sie nicht sehen, aber sie ist vorhanden. Für Sterbliche ist Yggdrasil gewiss unsichtbar, aber ohne die Kraft des Weltenbaumes würde alles auseinander fallen und sich in der Unendlichkeit verlieren.
Die Esche Yggdrasil ist von allen Bäumen der größte und ragt über alle neun Welten und selbst über den Himmel hinaus. Sie ist aus einem Stoff gemacht, der härter als Eisen ist, und doch nagt ein Hirsch ewig an ihrer Krone, und ein Wurm frisst ewig an ihrer Wurzel. Nur die Macht der Runen vermag sie zu bezwingen.
Drei Wurzeln hat der Weltenbaum: Eine Wurzel reicht bis nach Asgard, dem Reich der Götter; die zweite nach Jötunheim, wo die Riesen wohnen; und die dritte senkt sich nach Nibelheim hinab, in die Unterwelt.
An der ersten Wurzel liegt der Brunnen der Nornen, der drei Schwestern des Mondes, die das Schicksal der Menschen bestim-men und auch, wie manche meinen, das der Götter. Dort saß Ygg oft und lauschte schweigend ihren Reden. Die zweite Wurzel reicht hinab in einen Quell, der so tief ist, dass keiner seinen Boden kennt; doch an seinem Grunde liegt Gold und in seinem Wasser Weisheit. Die dritte Wurzel aber führt in einen brodelnden Pfuhl, in dem Jörmungand ihren Ursprung hat, die Schlange, die sich um die ganze Welt windet und am Ende der Zeit sich erheben wird.
Nun begab es sich, dass aus dem Westen neue Götter herbeika-men, von denen die Nornen nichts wussten. Sie nannten sich Wanen; ihr König war Njörd, und seine Kinder hießen Frey und Freya.
Sie waren Götter des Lebens und der Fruchtbarkeit. Eines Tages schlich sich Frey aus Übermut in die Halle Frohheim und nahm auf dem hohen Sitz Tyrs Platz, und von dort schaute er bis in die Fernen von Jötunheim und erblickte eine wunderschöne Maid, zu der er in Liebe entbrannte. Daraufhin zog er aus, sie zu gewinnen.
Ihr Name war Gerda, und sie folgte ihm aus freien Stücken nach Wanenheim, ohne das Wissen ihrer Eltern. Doch Tyr, der von seinem Übermut erfahren hatte, ließ eine Mauer um Asgard errichten und verkündete, jeder, der sie ohne sein Geheiß überschreite, müsse des Todes sein.
Aber es war nicht Frey, den man vor seinen Richterstuhl schleppte, sondern eine Riesin, Gerdas Mutter, Gullweig genannt, die auf der Suche nach ihrer Tochter bis ins Asenheim gelangt war. Und die Asen vollzogen an ihr den Richterspruch und banden sie auf den Scheiterhaufen; dreimal verbrannte man sie, da sie drei Leben hatte, und als sie verkohlt war, stieß Tyr selbst ihr das Schwert ins Herz.
Als die Wanen hörten, was geschehen war, trafen sie sich mit den Asen zu feierlichem Rat und verlangten Genugtuung. Denn nun, da Frey und Gerda den Bund der Ehe geschlossen hatten, war Gullweig eine Sippenverwandte der Wanen geworden, obgleich sie eine üble Hexe gewesen, und daher waren die Wanen gezwungen, ihren Tod zu rächen oder zumindest ein Blutgeld zuverlangen. Doch Tyr sprach: ›Was Recht ist, muss Recht bleiben.‹
So kam Krieg in die Welt. Beide Seiten waren ungefähr gleich stark, und mal war das Kriegsglück auf der Seite der Wanen, mal auf der Seite der Asen. Doch schließlich wurde der Burgwall der Asen gebrochen, und die Wanen hielten das Feld. Wieder gingen die Berater zu den Richterstühlen und hielten Rat. Und die Klügeren von ihnen wiesen darauf hin, dass jederzeit die Riesen zurückkehren könnten, während alle schutzlos dalägen, und so vereinbarte man einen Waffenstillstand. Tyr bot den Wanen an, Geiseln zu tau-schen, um den Frieden wiederherzustellen.
Infolgedessen gingen zwei der Asen, Mimir und Hönir, zu den Wanen, und Njörd und seine Kinder Frey und Freya sowie Gerda wohnten von nun an in Asgard.
Doch bald merkten die Wanen, dass Mimir zwar von großer Weisheit war, doch Hönir einfältig, und so hatten sie das Gefühl, beim Tausch von den Asen betrogen worden zu sein. Aus Zorn darüber ergriffen sie Mimir, schlugen ihm
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