Pesch, Helmut W.
haben, dieses System von unterirdischen Wegen zu errichten? Jahrzehnte?
Oder gar Jahrhunderte?
Selbst wenn er hätte fliehen wollen, Hagen hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt. In welche Richtung sollte er sich auch wenden? Er hatte keine Ahnung, wo sich Ausgänge befanden. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich der Führung der Swart-alfar anzuvertrauen.
»Sieh, Hagen«, riss ihn die Stimme Mîms aus seinen Gedanken.
Vor ihnen öffnete sich ein mächtiger Felsendom, eine natürliche Kuppel, die das Wasser ausgewaschen hatte. Im Zentrum des Doms erhob sich wie auf einem Podest ein einzelner, riesiger Kristall, der auf vielfältige Weise das fahle, kalte Licht der Wände brach und in allen Farben des Regenbogens funkelte.
Fasziniert, ja, ehrfurchtsvoll blickte Hagen auf dieses Schauspiel.
Die Farben wandelten sich ständig, je nach Blickwinkel des Betrachters und dem Lichteinfall der Wasserkaskaden von den Wänden.
»Toll …« Es klang irgendwie banal. Er hatte einige recht schöne Stellen in den Höhlen gesehen, aber dieses hier war ein Wunder.
»Ymirs Herz«, flüsterte Mîm, der unwillkürlich die Stimme gesenkt hatte, »nennen wir diesen Ort. Sein ist die Macht, die dies geschaffen hat!«
Hagen starrte wie gebannt auf das Farbenspiel und setzte nur noch mechanisch einen Fuß vor den anderen, so nahm ihn der Anblick gefangen. Ihn erfasste tiefes Bedauern, als Mîm ihn schließlich in einen Gang zog, der von dem Dom wegführte. Er warf einen letzten Blick zurück, dann hatten ihn die fahl ausgeleuchteten Gän-ge wieder.
»Wie weit ist es noch?«, fragte er.
»Wir sind noch eine Weile unterwegs …«, entgegnete Mîm vage, als wolle er sich nicht festlegen.
»Was heißt das, eine Weile?«
»In diesen Höhlen gibt es keine geraden Wege. Vielleicht, wenn der Meister dich für würdig hält, wirst du Erklärungen erhalten. Ich darf dir nicht mehr sagen …«
… weil ich immer noch ein Gefangener bin, beendete Hagen den Satz in Gedanken, und dann machte er sich selber Mut. Aber das kann sich ändern.
So führte ihr Marsch weiter durch die Höhlen. Hagen, der nun versuchte, auf den Weg zu achten, stellte fest, dass sie unentwegt die Richtung wechselten, sich wie durch ein Labyrinth bewegten.
Manchmal stieg der Weg steil an; dann führte er wieder über teils natürliche, teils künstliche Treppen hinab in die Tiefe. Einmal traten sie aus einem Gang und Hagen blickte zurück und hatte den Eindruck, als ob sie nur etwa zehn oder fünfzehn Meter weiter vorher abgebogen wären, einen großen Umweg gemacht hätten und durch drei, vier andere Gänge gegangen wären, nur um diesem kurzen Stück auszuweichen.
Täuschte er sich? Nein, Hagen war sich ganz sicher, dass er sich nicht geirrt hatte. Warum taten sie das? Warum liefen sie hier kreuz und quer durch die Gänge?
Wollten sie verhindern, dass er sich an den Weg erinnerte? Oder steckte etwas anderes dahinter? In ihm klang noch einmal auf, was Mîm gesagt hatte: »… in diesen Höhlen gibt es keine geraden Wege.«
Hagen gefiel es nicht, an der Nase herumgeführt zu werden, aber er musste das Spiel mitspielen – erst recht dann, wenn er wie ein Mensch vor den König geführt werden wollte und nicht wie ein wildes Tier.
Er versuchte, sich von den verqueren Pfaden in den Höhlen abzulenken, und seine Gedanken gingen wie von selbst zu dem Ring.
Dem Ring, den er aus der Tiefe des Brunnens geholt, den er ge-borgen hatte.
Und der sein Eigentum war!
Siggi hatte kein Recht gehabt, ihm den Ring zu stehlen. Und in Hagen begann sich wieder der Zorn auf den Dieb zu regen. In seinem Hinterkopf formte sich ein Gedanke, erst ganz schwach, doch dann ganz klar. Hagen grinste unwillkürlich. Ja, er musste nur den Obersten der Swart-alfar für sich gewinnen; damit würde er einen mächtigen Verbündeten haben, um Siggi den Ring abzunehmen und ihn zu strafen. Der Kerl musste für seinen Diebstahl bestraft werden, und seine Schwester gleich mit, die ihn glaubte zusammen-stauchen zu müssen, nur weil er sich einen kleinen harmlosen Scherz erlaubt hatte.
Es war wie eine Stimme in seinem Inneren, die ihm zuflüsterte: Siggi, der diebische Feigling, und Gunhild, seine großspurige Komplizin, werden für ihre Taten büßen müssen. Und nur einer kann dir dabei helfen – der Herr der Schwarzalben.
Hagen steigerte sich immer mehr in diese Vorstellung hinein.
Ohne dass es der Junge richtig begriff, wurde er plötzlich nur noch von dem Gedanken an Rache und dem
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