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Pesch, Helmut W.

Pesch, Helmut W.

Titel: Pesch, Helmut W. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Kinder der Nibelungen
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das Mädchen, an Laurion gewandt.
    »Ich weiß nicht, schöne Maid, aber wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben. Die Nacht ist noch lang …«
    »Wir müssen hier doch schon Stunden unterwegs sein«, sagte Gunhild. »Und das Tor öffnet sich bei Tagesanbruch …«
    »Wenn die Nacht vorbei ist …«, meldete sich der Graue zu Wort.
    »Und es ist die kürzeste Nacht des Jahres. Wir müssen Hagen finden und hier wieder raus. Uns läuft die Zeit davon«, sagte Gunhild fest.

    »Zeit ist nicht immer gleich Zeit«, entgegnete der Graue. »Es mag sein, dass hier schon Stunden vergangen sind«, fügte er hinzu, und der Blick seines Auges nagelte das Mädchen förmlich fest, »aber wer sagt dir, kleines Mädchen, dass Midgards Zeit ebenso vergeht?«
    »Es muss …«, begann Gunhild.
    »Es muss gar nichts. Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass die Gesetze der Anderswelt andere sind als die, welche du aus deiner Welt kennst und die ihr Menschen leichtfertig ›Naturgesetze‹
    nennt, als ob sie immer und überall Gültigkeit hätten.« Der Graue hatte sich in Rage geredet, und es schien fast, als ob er selbst mit seinen Worten größer und bedrohlicher geworden sei. »Und hier gelten andere Regeln als bei euch, holdes Kind.«
    »Aber …«, wagte Siggi einzuwerfen.
    Der Alte wirbelte herum. Sein weiter Umhang wehte wie im Sturmwind, so heftig war seine Bewegung. Mit lauten Krächzen flogen die Raben auf.
    »Lass gut sein, Einauge«, sagte Laurion, und in seiner Stimme lag ein Unterton, den die Kinder nicht zu deuten wussten. Der Alte sah den Lios-alf einen Moment zornig an, dann wandte er sich um, und der junge Lichtalbe versuchte sein Glück, die Kinder zu überzeugen. »Hört mir zu, Gunhild und Siegfried. Vertraut ihm. Es ist so, wie er sagt. Die Nacht ist lang, sehr lang, und wir werden euren Freund befreien, dessen bin ich mir sicher. Die Zeit hier ist eine andere als draußen in der Welt der Menschen.«
    Gunhild wollte ihn unterbrechen, aber Laurion hob die Hand und lächelte.
    »Bitte lasst mich ausreden. Überlegt doch einmal. Als ihr vor der dunklen Brut durch den Wald geflüchtet seid, habt ihr nicht selbst von dem Dämmerlicht erzählt, das sich nicht veränderte; von dem Gewitter, das nicht näher kam. Das waren schon die Schatten der Anderswelt, obwohl ihr es noch nicht wusstet. Glaubt mir, wir haben noch viel Zeit.«

    Gunhild sah in die mitternachtsblauen Augen des Lichtalben, der den Blick mit einem Lächeln erwiderte. Alle Zweifel, die sie noch hegen mochte, schmolzen unter diesem Blick dahin.
    »Aber wir haben nicht so viel Zeit, um hier rumzustehen und zu diskutieren«, sagte Siggi. »Lasst uns weitergehen.«
    Die Raben schwebten von der Decke herab und landeten wieder auf ihren angestammten Plätzen. Der Graue hatte sich aber noch nicht wieder vollständig in der Gewalt; als sie weitermarschierten, brummelte er ständig etwas vor sich hin.
    »Sie sind so ungeduldig, wollen alles anzweifeln«, knurrte er.
    »Lasst sie doch, Weisheit ist nicht die Stärke der Jugend, sondern die des Alters oder der Götter«, ließ sich Laurion beschwichtigend vernehmen, fügte aber ironisch an, »wenn auch nicht aller.«
    »Weisheit erfordert Opfer«, knurrte der Graue übellaunig.
    »Opfer?«, fragte Gunhild.
    »Ja, Opfer«, entgegnete der Graue. »Es gibt da eine alte Geschichte über jemanden, der für die Weisheit ein großes Opfer brachte …«
    Er schwieg eine lange Weile, sodass Gunhild ihn schon misstrauisch von der Seite ansah, weil sie dachte, er habe es sich vielleicht anders überlegt, aber dann begann er doch zu sprechen:
    »Als die Götter die Welt geordnet hatten, lebten sie in Frieden in Asgard, jenseits der Grenzen der Mittelerde. Ihr Herrscher war Tyr, der Gerechte, und er schlichtete jeglichen Streit in der Halle, die man Frohheim nannte, von seinem hohen Sitz, von dem aus man das ganze Universum überschauen konnte. Und es herrschte Frieden auf der Welt.
    Doch unter den Asen war einer, der weiter blickte als die anderen und der wusste, dass der Friede nicht ewig dauern würde. Denn seine Hände waren noch befleckt mit dem Blut Ymirs, mit dessen ge-waltsamem Tod die Welt entstanden war.«
    »War er einer der drei?«, konnte Gunhild sich nicht enthalten zu fragen. »Dieser Brüder, meine ich, die den Riesen getötet hatten; ich weiß ihre Namen nicht mehr …«
    »Einer oder alle, was spielt es für eine Rolle?«, fuhr der Alte ungerührt fort. »Was sind schon Namen? Nennen wir ihn Ygg, den

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