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Pesch, Helmut W.

Pesch, Helmut W.

Titel: Pesch, Helmut W. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Kinder der Nibelungen
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der Dämmerung stand. Und sie sprach folgende Stäbe:

    »Schwarz wird die Sonne, /es versinkt die Erde, Vom Himmel schwinden /die heiteren Sterne Rauch und Flammen / rasen umher.
    Vieles weiß ich, / weit voraus schau ich Der Welten Ende, / der Walgötter Sturz: Schwertzeit, Beilzeit, / Schilde bersten, Windzeit, Wolfzeit, / eh die Welt vergeht.
    Brüder befehden sich / und fällen einander, Geschwister sieht man / die Sippe brechen.
    Der eine schont / den andern nicht mehr.
    Was ist bei den Asen? / Was ist bei den Alben?
    Yggdrasil zittert, /die Götter sammeln sich.
    Zwerge stöhnen / vor steinernen Türen, Wenn der Wurm erwacht – wisst ihr noch mehr?«
    Keiner hat den Inhalt jenes Gesprächs je gekannt, das Odin und Thor an der Schwelle zur Unterwelt führten. Doch nun hatten sie einen Zeugen – einen Knaben aus Midgard, der unsichtbar bei ihnen war.
    Thor sprach: »Dann gibt es keine Hoffnung mehr?«
    »Die Götterdämmerung naht«, erwiderte der Graue. »Wer mag sie aufhalten?«
    »Dann sag mir, was du dem Baldur ins Ohr geflüstert hast, als man ihn auf den Holzstoß band.«
    Da sprach Odin zu Thor: »Hoffnung liegt allein in den Kindern, wenn mein Plan gelingt. Selbst Loki mag noch eine Rolle zu spielen haben vor dem Ende. Denn sind wir nicht Brüder, wir drei, Hoch, Ebenhoch und Dritt, wie Donner, Blitz und Sturm? Ehe das Ende hereinbricht, werden wir noch manchen mit uns ins Verderben reißen …«

    … und der Hammer senkte sich zum dritten Mal!
    Heller als das Licht im Auge der Götter ist die Flamme der Freiheit, die in der menschlichen Seele wohnt.
    »Nein!«, rief Siggi.
    Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Bewegung. Denn plötzlich hatte er erkannt, dass sie alle, Gunhild, Hagen und er, nur Teil eines teuflischen Plans waren, den Odin vor Urzeiten ersonnen hatte, um die Götterdämmerung zu verhindern – einen Plan, der beim ersten Mal misslungen war, durch alte Schuld und alte Feindschaft, und den er nun, am Ende seiner Kraft, noch einmal ins Werk setzen wollte.
    Der Hammer verharrte in der Bewegung.
    Sehnen spannten sich, Muskeln traten wie dicke Knotenstränge hervor, als der Gott und der Mensch miteinander kämpften. Langsam, Millimeter um Millimeter wurde der Hammer hinunterge-zwungen. Ob er den Speer je wirklich berührte, Siggi hätte es nicht sagen können.
    Denn um dem Arm hatte sich plötzlich ein Band gelegt, geschuppt, wie das Ornamentband, das den Rand des Ambosses umgab. Doch dieses Band schwoll und verdickte sich, wurde zu einer Schlange, die eine zweite Windung um Thors Arm flocht, eine dritte und vierte. Dann war sie überall zugleich, umgab den Gott von allen Seiten.
    »Jörmungand!« Die Stimme Thors war ein Kampfesruf und ein Schrei der Verzweiflung zugleich.
    Die Midgardschlange, welche die ganze Welt umspannte, ohne Anfang und Ende, hob ihr Haupt. Schlaufe um Schlaufe rollte sich um den Amboss heran, legte sich um Arme und Beine, Rumpf, Hals und Haupt.
    Thor kämpfte wie ein Berserker. Donner grollte in der Luft. Sein Hammer schlug Funken aus dem Schlangenleib, drang tief in die metallischschimmernde Haut. Doch wo er eine Windung des Ungeheuers zertrennte, türmten sich zwei weitere auf, bis er ganz von den schuppigen Schlingen umgeben war. Immer noch kämpfte Thor, aber die Schlange zog sich fester und fester, bis er sich nicht mehr rühren konnte, weil der endlos gewundene Leib ihn zer-quetschte. Und der Hammer entfiel seiner kraftlosen Hand.
    Siggi, der in dem ersten Ansturm Jörmungands beiseite geschleudert worden war, hob ihn auf. Er war wieder er selbst. Doch wie unter einem inneren Zwang stand er auf, um dem Gott, an dem er Anteil gehabt hatte, die letzte Ehre zu erweisen.
    Es war ein qualvolles Sterben. Das mächtige Haupt der Midgardschlange bäumte sich auf, bis es an die Decke der riesigen Kuppel stieß, und senkte sich dann herab. Dann öffneten sich die gifttrie-fenden Kiefer, und schlossen sich um ihre Beute. Doch sie ver-schlangen Thor nicht mit einem Mal, sondern langsam, Stück für Stück. Es schien ewig zu dauern, bis er verschwunden war und das letzte Grollen des Donners verebbte.
    Dann entrollte die Schlange ihre Windungen und zog sich wieder zusammen, Schlinge um schuppige Schlinge, bis sie wieder nicht mehr war als ein endlos geflochtenes Band, das einen schwarzen Stein im Zentrum der Anderswelt umgab.
    Noch völlig unter dem Eindruck des Erlebten stehend, wandte Siggi sich um. Er fühlte noch die Gegenwart des Donnergottes in sich wie ein

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