Pesch, Helmut W.
Augenblicken geschah.
Ragnarök – der Weltuntergang, die Götterdämmerung hatte nun die Anderswelt erfasst und würde diese vernichten.
»Jedem von euch hat in der Anderswelt ein Gott zur Seite gestanden, aber verändert habt ihr euch selbst.
Siggi«, wandte sich Freya an den blonden Jungen, der immer noch mit Mjölnir in der Hand schützend vor seiner Schwester stand, »achte auf dich, denn in dir steckt mehr, als du zu glauben bereit bist.«
Siggi neigte den Kopf vor der Göttin, wenn er auch nicht wusste, was sie mit ihren Worten meinte.
»Hagen, sei nicht traurig«, fuhr Freya fort, »du hast etwas ganz Großes vollbracht, du hast dich selbst besiegt.«
Auch Hagen neigte seinen Kopf und war stolz auf das Lob, aber nicht so wie früher; denn er ließ sich seinen Stolz nicht mehr zu Kopf steigen, sondern wusste, jeder Tag würde Prüfungen für ihn bringen, und er konnte sie nicht alle bestehen und würde Fehler machen. Aber er würde damit leben können.
»Und Gunhild«, sagte Freya leise zu dem Mädchen, »vergiss nicht: Du bist wie ich. Ich werde immer ein Teil von dir sein, auch wenn der Zauber vergeht. Denn ich bin die Herrin der Liebe.«
Die Gestalt der Göttin flackerte wie eine Kerzenflamme, die im Wind zu erlöschen drohte.
»Wie kommen wir wieder in unsere Welt?«, rief Siggi rasch, bevor sie entschwinden konnte.
»Folgt Gunhild, ich werde durch sie wirken«, antwortete die Göttin. »Ich werde nicht all das Schreckliche, das hier geschieht, von euch fern halten können. Aber erinnert euch auch an das Schöne, das ihr erlebt habt, und an eure Freunde Laurion und Mîm. Denn aller Hass wird am Ende vergehen, und nur die Liebe bleibt…«
Ihre Worte hallten noch einen Moment nach, dann war die Erscheinung verblasst und die Stimme verklungen.
Einen Augenblick standen die drei noch stumm da und starrten auf die Stelle, wo sie gewesen war. Zu viel war in den letzten Stunden auf sie eingestürmt. Sie waren Zeuge des Todes dreier Götter geworden – oder wie immer man auch jene Wesen bezeichnen sol -
te, die zugleich Verkörperungen elementarer Gewalten waren und doch auch Personen mit eigenen Hoffnungen, Wünschen und Zielen, die den höchsten Triumph ebenso kannten wie die abgrund-tiefe Verzweiflung.
Siggi dachte an Thor, den Donnerer, der kämpfend untergegan-gen war, und an dessen unbändige Kraft und dessen heldenhaften Mut. Auch wenn der Geist des Gottes ihn nicht mehr beseelte, war mit der Bewunderung auch etwas von diesem Mut auf ihn selbst übergegangen.
Gunhild dachte an Odin und wie sie in die Abgründe seines Geistes geschaut hatte, als er sein verwunschenes Auge öffnete. Wieder schauderte sie bei den Gedanken, wie es sein mochte, mit einem solchen Bewusstsein zu leben, und irgendwie empfand sie etwas wie Mitleid mit ihm, seinem unbändigen Verlangen, den Sturm aus dem Nichts noch eine Weile zurückzuhalten.
Und Hagen dachte an Loki. Konnte er ihm einen Vorwurf machen? Diesem blitzenden Geist, der stets eine Antwort wusste, der immer aus jeder Situation das Beste machte? Der immer falsch zu anderen war und doch nie sich selbst verleugnete? Was war wirklich gut daran und was böse? Er wusste es nicht. Doch er fühlte sich wie von einem Feuer berührt, dessen Kraft ihm geholfen hatte, sich selbst zu erkennen.
Ein Flammenstoß fauchte in die Kristallhöhle und erfüllte den Gang mit blendender Glut. Surt, der Feuerriese, war gekommen.
»Raus hier!«, sagte Siggi.
10
Ragnarök
»Wo geht’s lang?«, fragte Siggi, an Gunhild gewandt.
»Diesen Gang dort«, antwortete sie und zeigte auf einen offensichtlich nach unten weisenden Stollen und nicht auf jenen, der bergauf verlief und sie scheinbar ihrer Welt näher brachte.
»Aber der führt nicht nach oben«, wandte Siggi ein.
»Ich vertraue der Göttin«, sagte Gunhild einfach und trat auf den Gang zu, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.
»Und ich«, meinte Hagen, und den Glanz in seinen Augen hatte Siggi schon bei den Lios-alfar gesehen, »vertraue Gunhild.« Ohne ein weiteres Wort folgte er ihr.
»Na, wenn dem so ist«, meinte Siggi und ging den beiden nach.
Seine Hand hielt er fest um den Hammer geschlossen. Wer wusste, was sie noch erwartete; denn Freya hatte gesagt, sie würde nicht alle Schrecken von ihnen fern halten können.
Gunhild lenkte ihre Schritte sicher durch das Labyrinth der Gän-ge. Das Licht, das die Anderswelt erhellte, schien nicht mehr so in-tensiv zu sein; es schwand langsam dahin.
Der Zauber
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