Pesch, Helmut W.
der Zeit würde man sich daran gewöhnen. Aber die drei gewöhnten sich nicht daran. Jeder Todesschrei trieb ihnen von neuem eine Gänsehaut über den Rücken, und eine Beklemmung beschlich sie, die nicht weichen wollte.
So hatte sich in seiner Fantasie Siggi das Ende eines großen Abenteuers nicht vorgestellt. Am Ende reitet der Held immer lä-
chelnd in den Sonnenuntergang, und es bleibt keine Zeit für Trauer, Schmerz oder Entsetzen. In seiner Fantasie waren am Ende immer alle glücklich, die Bösen besiegt, die Guten wohlauf.
Aber wer waren hier die Guten? Wie hatte Odin noch gesagt, als er sie zu den Lichtalben bringen wollte: Was ist gut, was ist böse? Das sind zwei Seiten einer Münze. Wer kann schon sagen, welche Seite davon die richtige ist. Der Unterschied liegt im Geist des Betrachters.
Alle waren sie im Recht und die anderen im Unrecht. Aber im Tod machte es keinen Unterschied mehr. Er hatte gesehen, wie Laurion sein Schwert in die Körper der Schwarzalben stieß, und sie hatten beim Sterben genauso gelitten wie der junge Lios-alf, der ihnen das Leben gerettet, oder Yngwe, der in Ymirs Unheilsquell den Tod gefunden hatte.
Bald gab es keinen Zweifel mehr. Der Weg, der ihnen die Göttin durch Gunhild wies, führte sie näher an das Schlachtfeld heran, als ihnen lieb war. Die Schreie wurden deutlicher, und einzelne Worte waren zu verstehen, wenn ein Sterbender nach seiner Frau oder Mutter rief oder wenn ein von Geist Ragnaröks erfüllter Krieger einen wilden Schlachtruf im Namen Alberichs, Freyas, Thors oder Odins ausstieß. Manchmal war auch ein wilder Fluch zu hören, der in ihren Ohren gellte.
»Gibt es wirklich keinen anderen Weg?«, ließ Siggi sich vernehmen, und aus den Blicken, die ihn Hagen und Gunhild zuwarfen, konnte er sehen, dass sie ähnlich darüber dachten.
Das Licht schien mit jeden Augenblick mehr zu schwinden, und die Dämmerung nahm zu. Siggi fühlte sich an die Zeit erinnert, als sie von Swart-alfar durch den Wald gehetzt worden waren. Das Licht war das gleiche. Ein Kreis begann sich zu vollenden. Der Ring war nahezu geschlossen, nun mussten sie nur noch entkommen, ansonsten waren sie in diesem Teufelskreis gefangen, und für sie würde es kein Entrinnen mehr geben.
Die Kinder gingen langsamer, ja, sie schlichen fast durch die Gän-ge, denn sie wollten nicht plötzlich mitten in die Auseinandersetzung hineingeraten. Vorsichtig spähten die drei vor jeder Abzweigung oder an jedem Wegkreuz umher, ob da nicht Krieger waren, die für sie zu einer Bedrohung werden konnten.
»Da ist …« niemand, wollte Siggi sagen, aber das letzte Wort konnte er nicht mehr aussprechen, denn hinter ihm ertönte ein ersticktes Stöhnen. Siggi warf sich herum, und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Aus einem Seitengang hinter ihnen waren vier Schwarzalben getreten, an ihrer Spitze Alberich, der König. Hagen lag regungslos am Boden, atmete aber noch, soweit Siggi das beurteilen konnte, und Gunhild hing hilflos im Griff Alberichs, der ihr seinen Dolch an die Kehle drückte.
»Gib mir den Ring und den Speer, Erbe des Drachentöters!«, forderte er. Sein Bart war wirr, seine Mähne zerzaust. Er blutete aus einem Schnitt über der Stirn. Die prächtige schwarze Rüstung war vom Kampf gezeichnet. Die Schwerter der ihn begleitenden Krieger waren schartig, und auch die Swart-alfar selbst zeigten Spuren des sinnlosen Kampfes.
Im ersten Moment wusste Siggi nicht, was er sagen oder tun sollte. Doch ein Blick in die Augen seiner Schwester ließ etwas in ihm ausrasten, und in Siggi erwachte etwas, von dem er nicht gewusst hatte, wie stark es war.
»Hör doch auf, alter Mann!«, sagte er bestimmt. »Ragnarök ist da, und ob du nun Ring und Speer bekommst oder nicht, macht keinen Unterschied mehr. Es ist Schluss! Aus! Ende!«
Zorn malte sich in Alberichs Gesicht ab. Damit hatte er nicht gerechnet. Er presste Gunhild den Dolch an die Kehle.
»Ragnarök!«, höhnte Alberich. »Gib mir den Zauber zurück und die Macht, dann ist der Sieg mein! Und dann«, seine Stimme überschlug sich, »wird es nur noch ein Reich geben, ein Volk und einen Führer!«
»Das kannst du vergessen«, sagte Siggi einfach nur.
»Den Ring!«, forderte der Nibelung und sein Blick wurde hart.
»Und wo ist der Speer des Schicksals?«
»Odin hat den Speer«, und vor Siggis Augen stand noch einmal das Bild, als der Ase mit letzter Kraft den schwarzen Schaft umklammerte, »aber er hat ihm nicht geholfen. Und du bist
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