Peter Hoeg
August-Krogh-Institut und eine zweite in der Dänischen Technischen Hochschule. Unter der zweiten Adresse gibt es angeblich eine Bibliothek und ein Sekretariat.
Ich nehme ein Taxi zur Kampmannsgade, zum Handelsregister. Lächeln, Schlips und Treuherzigkeit des Jungen sind dieselben.
»Gut, daß du gekommen bist«, sagt er.
Ich zeige ihm den Zeitungsausschnitt.
»Du liest doch ausländische Zeitungen. Erinnerst du dich an das hier?«
»An den Selbstmord«, sagt er. »Alle erinnern sich daran. Die Konsulatssekretärin ist vom Dach gesprungen. Der Mann, den sie festgenommen haben, hat versucht, sie davon abzubringen. Der Fall hat ein paar grundsätzliche Fragen hinsichtlich der Rechtssicherheit von Dänen im Ausland ausgelöst.«
»Du erinnerst dich nicht an den Namen der Sekretärin?«
Seine Augen füllen sich mit Tränen.
»Ich habe im selben Jahrgang wie sie internationales Recht studiert. Ein tolles Mädchen. Ravn hieß sie. Nathalie Ravn. Hatte sich beim Justizministerium beworben. Es hieß – intern im Ministerium –, sie könnte der erste weibliche Polizeidirektor werden.«
»Es gibt nichts Internes mehr«, sage ich. »Wenn in Grönland etwas passiert, hängt das mit etwas anderem in Singapur zusammen.«
Er sieht mich verständnislos und traurig an.
»Du bist nicht meinetwegen gekommen«, sagt er. »Du bist deswegen hier.«
»Ich bin keine Bekanntschaft wert«, erwidere ich und meine es.
»Sie sah dir ähnlich. Geheimnisvoll. Und auch niemand, den man sich hinter einem Schreibtisch hätte vorstellen können. Ich habe nie verstanden, wie sie plötzlich Sekretärin in Singapur geworden ist. Das ist ein anderes Ministerium.«
Ich nehme die S-Bahn nach Lyngby und von dort aus einen Bus. Irgendwie ist es wie damals, mit siebzehn. Man glaubt, daß die Verzweiflung einen vollkommen paralysiert, aber das tut sie nicht, sie verkapselt sich in einem dunklen Punkt, irgendwo im Innern, und zwingt den Rest des Systems zum Funktionieren, zur Erledigung praktischer Dinge, die vielleicht nicht wichtig sind, einen aber in Gang halten und garantieren, daß man trotzdem irgendwie lebendig ist.
Zwischen den Gebäuden liegt der Schnee einen Meter hoch, man hat nur schmale Wege freigehalten.
Das Zentrum für Entwicklungsforschung ist noch nicht fertig eingerichtet. Am Empfang hat man eine Schranke aufgestellt, die allerdings abgedeckt ist, weil sie gerade die Decke streichen. Ich erzähle ihnen, was ich suche. Eine Frau fragt mich, ob ich Datenzeit habe, nein, sage ich. Sie schüttelt den Kopf, die Bibliothek ist noch nicht geöffnet, die Schriftenreihe des Zentrums liegt auf UNI C, beim Dänischen EDV-Zentrum für Forschung und Ausbildung, dem Datensystem der Hochschulen, das externen Nutzern nicht zugänglich ist.
Eine Zeitlang laufe ich zwischen den Gebäuden herum. In meiner Studienzeit bin ich mehrmals hiergewesen. Unsere Landvermesserkurse fanden hier statt. Die Zeit hat das Ambiente verändert. Es härter und fremder gemacht, als es das in meiner Erinnerung war. Oder vielleicht ist es die Kälte. Oder ich bin es selbst.
Ich komme an der ›Datenbar‹, dem Raum mit den Terminals, vorbei. Sie ist geschlossen, doch als eine Gruppe Studenten herauskommt, gehe ich hinein. In der Zentralhalle stehen vielleicht fünfzig Bildschirme. Ich warte eine Zeitlang. Als ein älterer Mann hereinkommt, folge ich ihm. Als er sich setzt, stehe ich hinter ihm und passe genau auf. Er sieht mich nicht. Er sitzt eine Stunde da. Dann geht er. Ich setze mich an ein freies Terminal und drücke eine Taste. Die Maschine schreibt Log on user id? Ich schreibe LTH 3 – wie der ältere Herr. Die Maschine antwortet Welcome to Laboratorium für technische Hygiene. Your password? Ich gebe JPB ein. Wie der ältere Herr. Die Maschine antwortet Welcome Mr. Jens Peter Bramslev .
Auf Zentrum für Entwicklungsforschung antwortet die Maschine mit einem Menü. Ein Punkt ist Library . Ich gebe Tørk Hviid ein. Es erscheint nur ein Titel. Eine Hypothese über die Ausrottung submarinen Lebens im Polarmeer im Zusammenhang mit dem Alvarez-Zwischenfall.
Es sind hundert Seiten. Ich blättere darin. Zeittabellen, Bilder von Fossilien. Weder sie noch der Bildtext sind wegen der groben Auflösung des Bildschirms lesbar. Verschiedene Kurven. Einige diagrammatische geologische Karten der jetzigen Davisstraße zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entstehung. Das Ganze wirkt einigermaßen unverständlich. Ich drücke mich ans Ende.
Nach einer langen
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