Peter Hoeg
sie auf einer rätselhaften Woge der Selbstsicherheit ihre Jugend, Schönheit und Attraktivität an Moritz erprobte, der fast fünfzig Jahre älter war als sie. Eines Tages bekam ich mit, daß sie von ihm verlangte, er solle die Möbel umstellen, damit sie Platz zum Tanzen habe, und da lehnte er ab.
Zuerst glaubte sie ihm nicht. Ihr schönes Gesicht, ihre schrägen, mandelförmigen Augen und die gerade Stirn unter den Korkenzieherlocken glühten vor Siegesbewußtsein. Dann begriff sie, daß er nicht nachgeben würde. Vielleicht war es das erstemal in ihrer Beziehung. Zuerst wurde sie bleich vor Zorn, dann bekam ihr Gesicht Risse. Ihre Augen wurden verzweifelt, leer, verlassen, ihr Mund verschloß sich in einem erstickten, infantilen, verzweifelten Weinen, das dennoch keine Tränen fließen lassen wollte.
Da sah ich, daß sie ihn liebte. Daß der werbenden Koketterie eine Liebe zugrunde lag wie eine militärische Operation, eine Liebe, die alles ertragen, alle nötigen Panzerschlachten ausfechten und dafür alles verlangen würde. Und dachte mir, daß sie mich vielleicht immer hassen würde. Und daß sie von vornherein verloren hatte. Irgendwo in Moritz gibt es eine Landschaft, die sie nie wird erreichen können. Die Heimat seiner Gefühle für meine Mutter.
Oder vielleicht irre ich mich auch. In diesem Moment, gerade jetzt, fallt mir ein, daß sie vielleicht trotzdem gewonnen hat. Wenn das so ist, will ich zugeben, daß sie wirklich in die Hände gespuckt hat. Daß sie es nicht dabei belassen hat, mit ihrem kleinen Po herumzuwackeln. Sich nicht damit begnügt hat, von der Bühne herunter Moritz im ersten Parkett anzuschmachten und zu hoffen, daß das auf die Dauer wirkt. Daß sie ihr Vertrauen nicht einfach auf ihren Einfluß zu Hause und im Schoß der Familie gesetzt hat. Falls ich es noch nicht gewußt habe, dann weiß ich es jetzt. Daß in Benja ungebändigte Energie steckt.
Ich stehe an die Hausmauer gepreßt im Schnee und schaue in den Wirtschaftsraum hinunter. Dort schenkt Benja ein Glas Milch ein. Bezaubernde, wendige Benja. Sie reicht es einem Mann, der jetzt in mein Gesichtsfeld tritt. Es ist der Nagel.
Ich komme von der S-Bahn Klampenborg den Strandvej herunter, und es ist ein Wunder, daß ich es überhaupt sehe, denn ich habe einen schweren Tag gehabt.
Morgens habe ich es nicht mehr ausgehalten. Bin aufgestanden, habe mir die Haare und die Binde, die jetzt nur noch ein Wundpflaster ist, unter eine Skimütze gesteckt, die Sonnenbrille aufgesetzt, einen Lodenmantel angezogen und die Bahn zum Hauptbahnhof genommen. Von dort aus rufe ich die Nummer des Mechanikers an, aber es nimmt niemand ab.
Dann gehe ich die Kais entlang, vom Zollkai zur Langelinje, um meine Gedanken zu sammeln. Am Nordhafen mache ich ein paar Einkäufe und lasse ein Paket packen, das sie zur Villa von Moritz hinausbringen sollen, und von einer Telefonzelle aus tätige ich einen Anruf, der, ich weiß es, eine der entscheidenden Handlungen in meinem Leben ist.
Trotzdem bedeutet es so seltsam wenig. Unter bestimmten Umständen fallen im Leben die schicksalsschweren Beschlüsse oder stellt sich vielleicht sogar die Frage, ob man leben oder sterben will, mit einer nahezu gleichgültigen Leichtigkeit. Während die kleinen Dinge, zum Beispiel die Art und Weise, wie man an dem, was sowieso vorbei ist, hängt, entscheidend sind. An diesem Tag ist es wichtig, daß ich die Knippelsbrücke noch einmal sehe, wo ich mit ihm gefahren bin, daß ich noch einmal den Weißen Schnitt sehe, wo ich mit ihm geschlafen habe, und die Kryolithgesellschaft und den Fischereihafen, wo wir untergehakt, spazierengegangen sind. Aus der Telefonzelle am S-Bahnhof Nordhafen rufe ich noch mal bei ihm an. Ein Mann antwortet. Doch es ist nicht er. Es ist eine gefaßte, anonyme Stimme.
»Ja?«
Ich halte den Hörer ans Ohr. Dann lege ich auf.
Ich schlage im Telefonbuch nach. Ich kann seine Autowerkstatt nicht finden. Ich nehme ein Taxi zum Toftegårds Plads und gehe die Vigerslev Allé hinunter. Dort gibt es keine Werkstatt. Von einer Telefonzelle aus rufe ich den Fachverband an. Der Mann, mit dem ich spreche, ist freundlich und geduldig. Doch in der Vigerslev Allé war noch nie eine Autowerkstatt registriert.
Bis jetzt ist mir noch nie aufgefallen, wie ausgesetzt Telefonzellen sind. Wenn man anruft, stellt man sich sozusagen zum sofortigen Erkanntwerden aus.
Das Telefonbuch führt unter dem Zentrum für Entwicklungsforschung zwei Adressen an, eine im
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