Peter Hoeg
ein. »Nicht um die Tropen.«
Moritz nickt.
»Aber du hattest den Artikel in deinem Brief unterstrichen. Loyen hat ihn geschrieben. Eines seiner großen Spezialgebiete.«
Lagermann trommelt gegen die Fotografie.
»Ich weiß nichts über Tropenkrankheiten. Ich bin Gerichtsmediziner. Aber in die beiden Menschen hier hat sich etwas hineingebohrt. Etwas, das vielleicht aussieht wie ein Wurm, vielleicht aber auch etwas anderes. Das einen vierzig Zentimeter langen und mindestens zwei Millimeter breiten Kanal hinterlassen hat. Sich durch das Zwerchfell und die Weichteile gebohrt hat. Und in Bereichen endet, die entzündet explodiert sind. Bei diesen beiden Herren hat das TNT keinen Unterschied gemacht. Sie waren bereits tot. Tot, weil etwas – was bei allen sieben Teufeln es auch gewesen sein mag – den Kopf in Herz und Leber gesteckt hatte.«
Ratlos sehen wir die Bilder an.
»Loyen wäre vielleicht der richtige Mann für dieses Problem«, sagt Moritz.
Lagermann betrachtet ihn mit zusammengekniffenen Augen.
»Ja«, sagt er. »Es wäre interessant zu hören, was er zu sagen hat. Aber es sieht ganz danach aus, als müßten wir ihn, wenn wir eine ehrliche Antwort haben wollen, an einen Stuhl binden, ihm Sodium pentothal geben und ihn an einen Lügendetektor anschließen.«
6
Ich möchte Benja gern verstehen . In diesem Moment mehr als je zuvor.
Das ist nicht immer so gewesen. Daß ich unbedingt verstehen wollte. Jedenfalls sage ich mir, daß das nicht immer so gewesen ist. Als ich das erstemal nach Dänemark kam, erlebte ich die Phänomene. In ihrem Grauen, in ihrer Schönheit oder grauen Tristesse. Doch ohne ein Bedürfnis nach einer Erklärung.
Oft war kein Essen da, wenn Jesaja nach Hause kam. Am Tisch saß Juliane mit ihren Freunden, es gab Zigaretten und Gelächter, Tränen und massiven Alkoholmißbrauch, aber keine müde Mark, mit der er sich an der nächsten Ecke Pommes frites hätte kaufen können. Er beklagte sich nie. Er schimpfte seine Mutter nie aus. Er maulte nicht. Geduldig, schweigend, achtsam wand er sich aus den ausgestreckten Händen und ging. Um, wenn möglich, eine andere Lösung zu finden. Manchmal war der Mechaniker zu Hause, manchmal ich. Er konnte eine Stunde oder länger bei mir im Wohnzimmer sitzen, ohne zu sagen, daß er Hunger hatte. Gefesselt von einer extremen, fast stupiden grönländischen Höflichkeit.
Wenn ich ihm etwas zu essen gemacht hatte, wenn ich eine Makrele gekocht und ihm den ganzen Fisch von anderthalb Kilo auf einer Zeitung auf den Fußboden gelegt hatte, weil er am liebsten dort essen wollte, und er mit beiden Händen, ohne ein Wort zu sagen, mit methodischer Gründlichkeit den ganzen Fisch fraß, die Augen aß, das Hirn aussaugte, die Gräten ableckte und die Flossen knackte, hatte ich manchmal Lust, mir etwas zu erklären. Den Unterschied zwischen einer Kindheit in Dänemark und Grönland zu verstehen. Um die demütigenden, aufreibenden, immer gleichen Gefühlsdramen zu begreifen, mit denen europäische Kinder und ihre Eltern in wechselseitigem Haß und gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden sind. Und um Jesaja zu verstehen.
Insgeheim weiß ich, daß das Begreifenwollen zur Blindheit fuhrt, daß der Wunsch zu verstehen eine eingebaute Brutalität verbirgt, die verwischt, wonach das Verständnis greift. Nur das Erlebnis ist empfindsam. Doch dann bin ich vielleicht schwach und brutal. Ich mußte einfach immer probieren.
Benja scheint alles bekommen zu haben. Ich habe ihre Eltern kennengelernt. Sie sind schlank und zurückgenommen, spielen Klavier und sprechen Fremdsprachen, und jeden Sommer, wenn die Schauspielschule des Königlichen Theaters zumachte und sie in den Süden, zu ihrem Haus an der Costa Smeralda fuhren, hatten sie die beste französische Ballettpädagogin mit, die Benja jeden Morgen unter den Palmen auf der Terrasse herumkommandierte, und das war sogar ihr eigener Wunsch gewesen.
Man könnte annehmen, daß ein Mensch, der nie gelitten hat oder nie etwas Nennenswertes entbehren mußte, innerlich zur Ruhe kommt. Eine Zeitlang schätzte ich Benja denn auch falsch ein. Wenn sie nur in ihren kleinen Höschen vor Moritz und mir durch die Räume ging, mit roten Seidentüchern die Lampen abdeckte, weil der Schein sie blendete, eine unendliche Serie von Verabredungen mit Moritz vorschlug und sie wieder absagte, weil sie, wie sie sagte, heute das Bedürfnis habe, ein paar Gleichaltrige zu sehen, glaubte ich, das sei ein Spiel zwischen ihnen. Daß
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