Peter Hoeg
Literaturliste kommt eine kurze Zusammenfassung des Aufsatzes.
Der Aufsatz geht von der in den siebziger Jahren von dem Physiker und Nobelpreisträger Luis Alvarez aufgestellten These aus, daß der Iridiumgehalt eines Lehmstreifens zwischen den Kreide- und Tertiärablagerungen bei Gubbio im nördlichen Apennin und bei Stevns Klint in Dänemark so hoch ist, daß er sich nur durch den Einschlag eines sehr großen Meteors erklären läßt.
Alvarez nimmt an, daß der Einschlag vor fünfundsechzig Millionen Jahren stattgefunden hat und der Meteor einen Durchmesser von sechs bis vierzehn Kilometern hatte, beim Einschlag explodierte und eine Energie in der Größenordnung l00.000.000 Megatonnen TNT freisetzte. Die dadurch entstehende Staubwolke jedenfalls schloß das Sonnenlicht für einige Tage vollkommen aus. In dieser Zeit brachen verschiedene Nahrungsketten zusammen. Als Folge davon wurde ein Großteil des marinen und submarinen Mikrolebens ausgerottet, was wiederum Konsequenzen für die großen Fleisch- und Pflanzenfresser hatte. In dem Aufsatz wird – auf der Grundlage von Funden, die der Autor in der Barentssee und bei der Davisstraße gemacht hat – die Möglichkeit erörtert ob die durch die Einschlagsexplosion bewirkte radioaktive Strahlung eine Reihe von Mutationen unter marinen Parasiten in den frühen paleozänen Perioden erklären kann. Diskutiert wird auch, ob diese Mutationen die Massenausrottung der größeren Meerestiere erklären können.
Ich blättere zurück. Die Sprache ist klar, der Stil konzis, fast durchsichtig. Aber fünfundsechzig Millionen Jahre scheinen sehr lange her zu sein.
Als ich den Zug zurück nehme, ist es dunkel. Der Wind trägt einen leichten Schnee heran – pirhuk . Ich registriere es wie durch eine Betäubung.
In der Großstadt lernt man, die Umwelt mit einem besonderen Blick zu betrachten. Mit einem fokussierenden, punktweise herausgreifenden Blick. Wenn man eine Wüste oder eine Eisfläche überschauen will, sieht man anders. Man läßt die Einzelheiten um der Gesamtheit willen aus dem Fokus herausgleiten. Ein solcher Blick sieht eine andere Wirklichkeit. Betrachtet man dagegen auf diese Weise ein Gesicht, beginnt es, sich in eine ständig verändernde Serie von Masken aufzulösen.
Für diesen Blick ist der Atem eines Menschen, dieser Schleier gekühlter Tröpfchen, der sich bei Temperaturen unter acht Grad Celsius in der Atemluft bildet, kein nur fünfzig Zentimeter vor dem Mund auftretendes Phänomen. Er ist etwas Umfassendes, eine Strukturänderung des Raumes um ein warmblütiges Wesen, eine Aura von minimalen, doch deutlichen thermischen Verschiebungen. Ich habe Robbenfänger in einer sternenlosen Winternacht aus einem Abstand von zweihundertfünfzig Metern Schneehasen schießen sehen, wobei sie ausschließlich auf den Nebel um die Tiere zielten.
Ich bin keine Robbenfängerin. Und ich schlafe innerlich. Vielleicht bin ich kurz davor aufzugeben. Doch ich spüre ihn, als ich noch fünfzig Meter entfernt bin, bevor er mich gehört hat. Er steht zwischen den beiden Marmorstützen, die die Tür einrahmen, die vom Strandvej zur Treppe hinaufführt.
Im Nørrebroviertel stehen die Leute an Straßenecken und in Toreinfahrten, aber dort bedeutet das nichts. Am Strandvej ist es signifikant. Außerdem bin ich inzwischen überempfindlich. Ich streife die resignierende Dösigkeit ab und trete einige Schritte zurück in den Nachbargarten.
Ich finde das Loch in der Hecke, durch das ich als Kind so oft geschlüpft bin, zwänge mich durch und warte. Nach ein paar Minuten sehe ich den zweiten. Er hat sich an der Ecke der Pförtnerwohnung aufgebaut, wo die Einfahrt zum Haus hin eine Kurve macht.
Ich gehe zurück zu der Stelle, von der aus ich die Küchentür in einem Winkel erreichen kann, den sie beide nicht sehen können. Die Sicht hat sich verschlechtert. Die schwarze Erde zwischen den Rosen ist hart wie Stein. Die Vogeltränke hat sich in eine große Schneewehe eingekapselt.
Ich gehe an der Hausmauer entlang und denke plötzlich daran, daß ich, die ich mich so oft verfolgt gefühlt habe, bisher noch gar keinen richtigen Grund gehabt habe, mich zu beschweren.
Moritz ist allein im Wohnzimmer, ich sehe ihn durch das Fenster. Er sitzt in dem niedrigen Eichensessel und umklammert die Armlehne. Ich gehe weiter, um das Haus herum, am Haupteingang vorbei und an der Rückseite entlang bis zu der Stelle, wo der Erker vorspringt. Im Wirtschaftsraum ist Licht. Ich sehe Benja.
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