Peter Hoeg
Mutter, die ihren Säugling angeblich nicht entbehren, kann.
Die Klimaanlage. Die Kronos hat Preßluftventilation, die auch in diesem Augenblick schwach summt. Die Entlüftung liegt hinter den perforierten Deckenplatten. In jeder Platte sind mindestens vierzig Schrauben. Jedesmal vierzig Schrauben, wenn ich zu meinem Baby wollte, das wäre unüberwindbar.
Ich gehe seine Schubladen ein zweites Mal durch. Noch immer ergebnislos. Sie enthalten Schreibpapier, blaue Knete, wie man sie zum Aufhängen von Postkarten benutzt, ein paar dicke Hochglanzhefte des ›Playboy‹, einen elektrischen Rasierapparat, mehrere Kartenspiele, eine Schachtel mit Schachfiguren, vier durchsichtige Plastikschachteln mit knalligen Seidenfliegen, ziemlich viele Devisen, eine Kleiderbürste und noch ein paar Goldkettchen wie die, die er um den Hals trägt.
Im Bücherregal ein spanisch-dänisches Wörterbuch, Berlitz' türkischer Sprachführer, ein Handbuch für Systembridge von BP, ein paar Schachbücher. Ein zerschlissenes Taschenbuch mit dem Bild eines nackten, blonden, gutgemästeten Mädchens und dem Titel Flossy – süße 16 .
Ich habe mich nie ernsthaft für Bücher interessiert, die keine Fachbücher sind. Ich habe nie behauptet, daß ich kulturell veranlagt bin. Andererseits habe ich mir immer gedacht, es sei wohl nie zu spät, mich zu bilden und ein neues Leben anzufangen. Vielleicht sollte ich mit Flossy – süße 16 den Anfang machen.
In der Schublade ist auch ein Taschenmesser. An der Schneide kleben ein paar flaschengrüne Körnchen. Ich öffne den Schrank und durchsuche die Sachen noch einmal. Er hat nichts in dieser Farbe. Im Bett gurgelt Jakkelsen leise vor sich hin.
Dann hole ich die Schachtel mit den Schachfiguren aus der Schublade. Ich nehme einen weißen König und eine schwarze Königin und stelle sie auf den Tisch. Sie sind aus einer schweren Holzsorte und sorgfaltig geschnitzt. Das Brett liegt auf dem Tisch und hat an der Oberseite eine dünne Metallplatte. An Bord eines Schiffes ist es sicher praktisch, wenn ein Schachspiel magnetisch ist. Die Magneten sitzen unter den Figuren, eine bleifarbene Scheibe unter dem Fuß. Auf die Scheibe ist ein grünes Filzstückchen geklebt. Ich drücke die Messerschneide zwischen den Fuß des Königs und die Metallscheibe. Sie leistet Widerstand, kommt aber. Sie hat an den Rändern ein ganz klein bißchen Kleber bekommen. Ich lege die Scheibe auf den Tisch. Am Messer ist ein Filzkörnchen hängengeblieben, ein paar minimale grüne Härchen, die nur zu sehen sind, wenn man weiß, daß sie da sind.
Die Figur ist hohl. Sie ist vielleicht acht Zentimeter hoch, und auf die gesamte Länge ist ein Zylinder von anderthalb Zentimeter Durchmesser ausgebohrt. Vermutlich hat das nicht Jakkelsen getan, die Figuren sind schon so hergestellt worden. Doch er hat das ausgenutzt. Ganz oben liegt ein Klumpen Knete. Darunter drei klare Plastikröhrchen. Ich schüttele sie heraus. Dahinter sind vier weitere.
Ich lege sie zurück, versiegele die Figur mit Knete und klebe den Magnet an die Figur. Ich hätte auch die übrigen Figuren untersuchen können. Um herauszubekommen, ob in jedem Bauer zwei oder drei Röhrchen Platz haben. Um auszurechnen, ob es für vier oder sechs Monate reicht. Aber mir ist danach zu verschwinden. Eine alleinstehende Dame sollte sich nicht zu lange in der Kajüte eines fremden Herrn aufhalten.
4
»Es war meine erste Reise. Ich ging also zu einem Kollegen. ›Wie navigiere ich nach Grönland«, habe ich ihn gefragt. ›Du fährst nach Skagen‹, antwortete er. ›Dort biegst du links ab. Wenn du ans Kap Farvel kommst, biegst du nach rechts ab.‹«
Ich bohre den Korkenzieher in den Korken. Es ist ein Weißwein, er hat eine gelbgrüne Farbe, und Urs hat ihn im letzten Moment allein im Aufzug hochgeschickt, als handele es sich um eine temperaturempfindliche Ikone. Als ich den Korkenzieher herausziehe, bleibt die Hälfte des Korkens in der Flasche stecken. Ich muß noch einmal bohren. Der Korkenrest zerkrümelt und fällt in den Wein. Urs hat gesagt, der Montrachet sei ein großer Wein. Da sollte so ein kleiner Korken ja eigentlich nicht so viel ausmachen.
»Danach hat er eine Seekarte genommen, das Lineal bei Skagen angelegt, zum Kap Farvel hochgedreht und eine Linie gezogen. ›Der folgst du‹, hat er gesagt, ›damit machst du grand cirde sailing . Und die letzten beiden Tage und Nächte vor dem Kap schläfst du nicht. Da trinkst du schwarzen Kaffee und hältst nach
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