Peter Hoeg
schwer, ich muß auch Pech gehabt haben, irgendwie muß sich das Universum von mir zurückgezogen haben. Wenn meine Umgebung zurückweicht, ziehe ich mich zusammen wie eine lebende Miesmuschel, die man mit Zitrone beträufelt. Ich kann nicht auch noch die andere Wange hinhalten, ich kann der Feindseligkeit nicht mit noch mehr Zutrauen begegnen.
Einmal habe ich Jesaja geschlagen. Ich hatte ihm erzählt, daß wir als Kinder, wenn das Eis bei Siorapaluk weit drinnen in der Bucht aufbrach, von Eisscholle zu Eisscholle gesprungen sind, obwohl wir wußten, wenn man ausrutscht, unter das Eis rutscht und einen die Strömung nach Nerrivik hinuntertreibt zur Mutter des Meeres, von der man nie zurückkehrt. Am nächsten Tag wollte er vor dem Supermarkt am Grönländerdenkmal auf dem Markt auf mich warten. Als ich aus dem Supermarkt kam, war er weg, und als ich über die Brücke ging, war er unten auf dem Eis, dünnem Neueis, das durch die Strömung von unten her verrottet ist. Ich schrie nicht, ich konnte nicht schreien, ich ging zum Pissoir am Kai und rief ihn ganz sanft, und als er kam, zögernd über das Eis trippelte und endlich auf dem Pflaster stand, schlug ich ihn. Der Schlag war wohl – das ist bei Gewalt nun mal so – ein Destillat meiner Gefühle für ihn. Er hielt sich gerade noch aufrecht.
»Schlägst du mich?« sagte er und sah sich tränenblinzelnd nach einer Waffe um, mit der er mich aufschlitzen konnte.
Dann fand er mit einem einzigen, aber riesigen Ruck zu den unbegrenzten Reserven zurück, die er hatte. » Naammassereerpoq , daran kann man sich wohl auch gewöhnen«, sagte er.
Diese Tiefe habe ich nicht. Vielleicht ist es mir unter anderem deshalb so ergangen.
Ich höre keinen Ton, aber ich weiß, daß ein Mensch hinter mir steht. Im nächsten Moment lehnt sich Verlaine an die Reling und folgt meinem Blick über das Meer. Er zieht seinen Arbeitshandschuh aus und holt eine Handvoll Reis aus seiner Brusttasche.
»Ich habe immer geglaubt, Grönländer hätten kurze Beine, würden wie die Schweine ficken und nur arbeiten, wenn sie Hunger haben. Das eine Mal, als ich oben war, brachten wir Petroleum an einen Ort im Norden. Wir pumpten es direkt in die Behälter, die am Strand standen. Irgendwann kam ein kleiner Mann in einem Boot, feuerte ein Gewehr ab und schrie etwas. Da rannten sie alle zu ihren Hütten, kamen mit Gewehren zurück und fuhren in ihren Jollen aufs Meer hinaus oder schossen direkt vom Strand aus. Wenn ich nicht aufgepaßt hätte, hätte der Druck die Schläuche weggefetzt. Es zeigte sich, daß ein Schwarm von irgendwelchen Fischen vorbeigekommen war.«
»Zu welcher Jahreszeit war das?«
»Vielleicht im Juli oder Anfang August.«
»Weißfisch«, sage ich. »Ein kleiner Wal. Dann war das bei einem der Außenposten südlich von Upernavik.«
»Wir telegrafierten an die Handelsgesellschaft, daß die Leute die Arbeit niedergelegt hätten und zum Fischen gefahren seien. Wir bekamen die Antwort, das passiere mehrmals im Jahr. So ist das mit primitiven Menschen. Wenn sie den Bauch voll haben, sehen sie keinen Grund mehr zum Arbeiten.«
Ich nicke einverstanden.
»In Grönland sagt man«, sage ich, »daß die Filipinos eine Nation von faulen kleinen Zuhältern sind, die man auf See nur gebrauchen kann, weil sie nicht mehr als einen Dollar die Stunde kriegen, daß man sie aber die ganze Zeit über mit Unmengen frischgekochtem Reis füttern muß, wenn man nicht plötzlich ein Messer im Rücken haben will.«
»Das ist wahr«, sagt er.
Er lehnt sich zu mir herüber, um nicht brüllen zu müssen. Ich sehe zur Brücke hoch. Wo wir stehen, sind wir voll zu sehen.
»Das hier ist ein Schiff mit Regeln. Einige sind vom Kapitän. Einige von Tørk. Aber nicht alle. Sie sind nämlich von uns abhängig – von den Ratten.«
Er lächelt mich an, seine Zähne sind glasierte Kreidestückchen in der dunklen Haut. Er spürt meinen Blick.
»Porzellankronen. Ich war in Singapur im Gefängnis. Nach anderthalb Jahren hatte ich keinen Zahn mehr im Mund. Die Kiefer waren mit galvanisiertem Draht zusammengebunden. Da haben wir eine Flucht organisiert.«
Er lehnt sich noch weiter zu mir hin.
»Dort habe ich herausbekommen, wie schlecht ich Polizisten vertrage.«
Als er sich aufrichtet und geht, bleibe ich stehen und sehe auf das Meer hinaus. Es fängt an zu schneien. Aber das ist kein Schnee. Es kommt von Deck. Ich sehe an mir hinunter. In ihrer ganzen Länge, vom Kragen bis zum Gummibund, ist meine Daunenjacke
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