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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Eisbergen Ausschau.‹«
    Es ist Lukas, der redet. Ohne die Leute, zu denen er spricht, anzuschauen. Zugleich hält er sie mit seiner Autorität in Bann.
    Abgesehen von ihm sind drei weitere Personen in der Offiziersmesse. Katja Claussen, Seidenfaden und Maschinenmeister Kützow.
    Ich serviere zum erstenmal in meinem Leben.
    »Damals fuhr man im April. Man versuchte, den sogenannten ›Osterostwind‹ zu erwischen. Wenn das gelang, konnte man den ganzen Weg über Mitwind haben. Undenkbar, daß man sich freiwillig die Zeit zwischen November und Ende März ausgesucht hätte.«
    Für die Reihenfolge des Einschenkens gibt es Regeln. Sie sind mir leider nicht bekannt. Ich rate also und schenke aufs Geratewohl der Frau ein. Sie wirbelt den einen Zentimeter Flüssigkeit im Glas herum, aber ihre Augen hängen an Lukas, und als sie kostet, schmeckt sie nichts.
    Ich versuche, abwechselnd von rechts und links an die Gläser zu kommen. Um alle zufriedenzustellen. Sie haben sich umgezogen. Die Männer haben weiße Hemden an, die Frau trägt ein rotes Kleid.
    »Das erste Eis können wir etwa vierundzwanzig Stunden vor Kap Farvel erwarten. Dort ist 1959 die Hans Hedtoft von der Grönlandhandelsgesellschaft untergegangen, fünfundneunzig Passagiere und Besatzungsmitglieder sind damals umgekommen. Haben Sie schon mal einen Eisberg gesehen, Fräulein Claussen?«
    Ich serviere den Blumenkohl und Urs' Sauerteigbaguettes. Am Tisch geht es einigermaßen. Doch draußen am Aufzug kippt mir der restliche Blumenkohl über den gekochten Lachs. Da liegt er, in seiner ganzen Haut, und starrt mich abwartend an. Urs hat mir erzählt, daß er von einem japanischen Koch gelernt hat, die Augen nicht mitzukochen, sondern sie aufzuheben und wieder einzusetzen, wenn das Fleisch gar ist, und dann das Ganze leicht mit Eiweiß zu bepinseln, so daß der Fisch einen schleimigen Glanz erhält, als käme er direkt aus dem Netz auf den Tisch. Ich mag das nicht. Ich finde, der Fisch macht einen verendeten Eindruck.
    Ich kratze den Blumenkohl ab und trage den Fisch hinein. Sie sehen sowieso nicht, was sie essen. Sie sehen Lukas an.
    »Eisberge sind Gletscherstücke, die vom Inlandeis ins Meer treiben und abbrechen. Wenn sie massiv sind, beträgt das Verhältnis zwischen dem Teil über und dem unter Wasser eins zu fünf. Wenn sie hohl sind, ist es eins zu zwei. Die hohlen sind natürlich die gefährlichsten. Ich habe Eisberge gesehen, die vierzig Meter hoch waren und 50.000 Tonnen wogen und durch die Vibrationen der Schiffsschraube kentern konnten.«
    Ich verbrenne mir die Finger am Kartoffelgratin. Lukas ist verschont geblieben. In der Antarktis bin ich in einem Gummiboot an teilweise geschmolzenen Tafeleisbergen vorbeigeschlichen, die neunzig Meter hoch waren, eine Million Tonnen wogen und explodiert wären, wenn man die erste Strophe von ›Der Mai ist gekommen‹ gepfiffen hätte.
    »Die Titanic lief 1912 südöstlich von Neufundland auf einen Eisberg und sank innerhalb von drei Stunden. Dabei sind 1.500 Menschen umgekommen.«
    In meiner Kajüte habe ich eine Zeitung ins Waschbecken gelegt, mich vorgebeugt und meine Haare zwanzig Zentimeter abgeschnitten, so daß sie jetzt genauso lang sind wie die, die nach der Verbrennung nachgewachsen sind. Zum erstenmal an Bord habe ich mein Kopftuch abgenommen. Mehr kann ich nicht tun, um zu verhindern, daß mich die Frau erkennt.
    Ich hätte mir die Mühe sparen können. Ich bin eine Fliege an der Wand, sie sieht mich nicht. Der Mann sieht Lukas an, der Maschinenmeister schaut auf sein Glas, und Lukas sieht niemanden und nichts an. Einen Moment lang ruht der Blick der Frau abschätzend auf mir. Sie ist mindestens zwanzig Zentimeter größer und fünf Jahre jünger als ich. Sie ist dunkel, und sie ist wachsam, und um den Mund hat sie einen Zug, der eine Geschichte erzählt, vielleicht erzählt er, was es – entgegen der landläufigen Meinung – eine Frau kostet, gut auszusehen.
    Ich halte den Atem an. Bei Jesajas Beerdigung war es dunkel. Es waren noch zwanzig andere Frauen anwesend. Sie war aus anderen Gründen da. Sie war da, um Andreas Fine Licht zu warnen. Er hätte auf die Warnung hören sollen.
    Sie braucht nur den Bruchteil einer Sekunde, um mich zu katalogisieren. In ihrem Innern öffnet sie eine Schublade mit der Aufschrift ›Bedienung‹ und ›ein Meter sechzig‹, läßt mich hineinfallen und vergißt mich. Sie muß sich auf anderes konzentrieren. Unter dem Tisch hat sie dem Mann die Hand auf den Schenkel

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