Peter Hoeg
den sie Tørk nennen. Hätte diese Begegnung vor zehn Jahren stattgefunden, hätte ich mich möglicherweise in ihn verliebt.
Es kann passieren, daß ein Mensch eine solche Ausstrahlung hat, daß sie unsere Paraden und unsere notwendigen Vorurteile und Hemmungen unterläuft und direkt in die Eingeweide eindringt. Um mein Herz hat sich vor fünf Minuten ein Reifen gelegt, und jetzt wird er angezogen. Das Gefühl vermischt sich mit dem zunehmenden Fieber, der Antwort des Systems auf den Schaden, den es erlitten hat, und hat einen stechenden Kopfschmerz zur Folge.
Vor zehn Jahren hätte dieser Kopfschmerz zu dem ernsthaften Wunsch führen können, meinen Mund auf den seinen zu drücken und ihn die Selbstbeherrschung verlieren zu sehen.
Heute kann ich das, was da mit mir passiert, voller Andacht vor dem Phänomen betrachten und weiß doch genau, daß es nur eine kurze, lebensgefährliche Illusion ist.
Die Fotografien haben seine Schönheit eingefangen, sie jedoch leblos werden lassen wie die einer Statue. Sie haben die Ausstrahlung nicht wiedergegeben, und das ist eine doppelte. Man wird in den Raum hinausgedrückt und zugleich zu dem Mann hingesogen.
Selbst im Sitzen wirkt Tørk sehr groß. Das Haar ist fast metallisch weiß und hinten am Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Er sieht mich an, das lärmende Pochen in meinem Fuß, meinem Rücken und meinem Hinterkopf schwillt an, und ich erinnere mich, so momentweise wie an die punktuellen Eisformationen, die wir zum Examen an der Universität zu sehen bekamen und danach wiedererkennen sollten, an eine Reihe von Jungen und Männern, die im Laufe meines Lebens auf diese Weise an mich herangekommen sind. Dann packe ich die Wirklichkeit und ziehe mich wieder an Land. Meine Nackenhaare sträuben sich und sagen mir, daß er, abgesehen von allem, was er sonst noch sein mag, der Mann ist, der, während wir in Nacht und Kälte vor dem Weißen Schnitt gewartet haben, einen Meter von mir entfernt gestanden hat. Das Helle um seinen Kopf, das waren diese sonderbaren weißen Haare.
Er sieht mich aufmerksam an.
»Warum auf dem Vordeck?«
Lukas sitzt am Tischende. Er spricht mit Verlaine. Der mir schräg gegenübersitzt. Leicht zusammengesunken und entgegenkommend.
»Wollte Luft schnappen. Bevor ich mich wieder an die Arbeit an den Kufen machen mußte.«
Jetzt erinnere ich mich. Kista Dan und Maggi Dan, die Arktisschiffe der Reederei Lauritzen, die Schiffe meiner Kindheit. Vor der amerikanischen Base, vor den Maschinen aus Südgrönland. Die Schiffe waren – für den Einsatz unter extremen Bedingungen, wie zum Beispiel beim Festfrieren – mit besonderen Aluminiumrettungsbooten ausgerüstet, an deren Unterseite Kufen festgeschraubt waren, so daß man sie wie Schlitten ziehen konnte. Solche Kufen hatte Verlaine gerade anbringen wollen.
»Jaspersen.«
Er sieht auf das Blatt Papier vor sich.
»Sie haben die Wäscherei eine halbe Stunde vor Ablauf Ihrer Wache, also um 15.30 Uhr verlassen, um einen Spaziergang zu machen. Sie sind in den Maschinenraum hinuntergegangen, haben eine Tür gesehen, sie geöffnet und sind den Tunnel bis zur Treppe gegangen. Was zum Teufel wollten Sie da?«
»Herauskriegen, was ich so täglich unter den Füßen habe.«
»Und?«
»Da war eine Tür. Mit zwei Kurbeln. Ich drehe an der einen, der Alarm setzt ein. Zuerst habe ich geglaubt, daß ich ihn ausgelöst habe.«
Er sieht von Verlaine zu mir. Der Zorn verschleiert seine Stimme.
»Sie können sich ja kaum aufrecht halten.«
Ich sehe Verlaine in die Augen.
»Ich bin gefallen. Als die Alarmanlage losging, bin ich einen Schritt zurückgetreten und die Treppe hinuntergefallen. Ich muß mit dem Kopf auf eine Stufe aufgeschlagen sein.«
Lukas nickt, langsam und bitter.
»Irgendwelche Fragen, Tørk?«
Er wechselt die Stellung nicht. Hält nur den Kopf schief. Er könnte Mitte Dreißig, Mitte Vierzig sein.
»Rauchen Sie, Jaspersen?«
Ich erinnere mich jetzt deutlich an diese Stimme. Ich schüttele den Kopf.
»Die Sprinkleranlage arbeitet in Sektoren. Haben Sie irgendwo Rauch gerochen?«
»Auch nicht.«
»Verlaine, wo waren Ihre Leute?«
»Das untersuche ich gerade.«
Tørk erhebt sich. Er bleibt an den Tisch gelehnt stehen und sieht mich nachdenklich an.
»Der Uhr auf der Brücke zufolge hat sich die Alarmanlage um 15:57 Uhr eingeschaltet. Drei Minuten und fünfundvierzig Sekunden später hat sie sich ausgeschaltet. Die ganze Zeit über haben Sie sich in dem aktivierten Abschnitt
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