Peter Hoeg
können. Statt dessen ist er hier gelandet. In schlechterer Gesellschaft, als er sich überhaupt vorstellen kann. Er fängt an, mir leid zu tun. Er ist ein Stückchen des guten Teils von Dänemark. Ehrlichkeit, aufrechte Haltung, Draufgängertum, Gehorsam, Bürstenschnitt, geordnete Finanzen.
»Sonne«, sage ich, »kommen Sie aus Ærøskøbing?«
»Aus Svaneke, von Bornholm.«
Er ist überrumpelt.
»Macht Ihre Mutter Frikadellen?«
Er nickt.
»Gute Frikadellen? So richtig knusprig?«
Er wird rot. Er möchte gern protestieren. Gern ernstgenommen werden. Gern seine Autorität behaupten. Wie Dänemark. Mit blauen Augen, roten Wangen und reellen Absichten. Doch um ihn herum sind die großen Kräfte am Werk, das Geld, die Entwicklung, der Mißbrauch, der Zusammenstoß zwischen der neuen und der alten Welt. Und er hat nicht begriffen, was da vor sich geht. Daß man ihn nur duldet, solange er mit dem Strom schwimmt. Und daß seine Phantasie gerade dazu ausreicht. Mit dem Strom zu schwimmen. Um dagegenzuhalten braucht es ganz andere Talente. Sehr viel handgreiflichere, sehr viel klarsichtigere. Sehr viel verbittertere.
Ich strecke mich und gebe ihm einen Klaps auf die Wange. Ich kann nicht anders. Seine Röte wächst an seinem Hals hoch wie eine Rose unter der Haut.
»Sonne«, sage ich. »Ich weiß nicht, was Sie so treiben. Aber machen Sie trotzdem weiter so.«
Ich schließe meine Tür ab, klemme den Stuhl unter die Klinke und setze mich auf das Bett.
Jeder, der lange genug in Gegenden gereist ist, wo es kalt genug ist, wird früher oder später in eine Lage geraten, in der sich am Leben zu halten dasselbe ist wie wach bleiben. Der Schlaf trägt den Tod in sich. Wer erfriert, durchläuft ein kurzes Stadium des Schlafes. Wer verblutet, schläft, wer unter einer kompakten Naßschneelawine begraben wird, schläft in den Erstickungstod hinüber.
Ich brauche Schlaf. Doch es geht nicht, noch nicht. Aber immerhin läßt einem der verschwommene Bereich zwischen Schlaf und Klarheit in dieser Situation eine gewisse Ruhe.
Bei der ersten Inuit Circumpolar Conference entdeckten wir, daß alle Völker um das Polarmeer die Geschichte vom Raben kennen, den arktischen Schöpfungsbericht. Darin heißt es über den Raben: »Doch begann auch er in Menschengestalt, und er tappte im Dunkeln, und seine Taten waren zufällig, bis ihm offenbart wurde, wer er sei und was er solle.«
Zu dem vorstoßen, was man soll. Vielleicht ist es das, was mir Jesaja gegeben hat. Was einem jedes Kind geben kann. Das Gefühl von Sinn. Das Bewußtsein, daß sich durch mich und dann durch ihn ein Rad mit einer großen und empfindlichen und zugleich notwendigen Bewegung weiterdreht.
Diese Bewegung ist nun gebrochen. Jesajas Körper im Schnee ist ein Bruch. Als er sich bewegte, war er ein Sinnstifter, eine Vernunft. Und wie immer habe ich das ganze Ausmaß seiner Bedeutung erst ermessen, als er fort war.
Jetzt besteht der Sinn darin zu verstehen, weshalb er gestorben ist. Darin, in dieses minimale und allumfassende Detail, seinen Tod, einzudringen und es zu beleuchten.
Ich wickle die elastische Binde um meinen Fuß und versuche, den Blutkreislauf in Gang zu kriegen. Dann schließe ich hinter mir ab und klopfe leise bei Jakkelsen an.
Er ist immer noch in chemischer Hochform. Doch die Wirkung läßt bereits nach.
»Ich will auf das Bootsdeck«, sage ich. »Heute nacht. Du mußt mir helfen.«
Er ist auf den Beinen und schon fast zur Tür raus. Ich versuche nicht, ihn aufzuhalten. Ein Mensch wie er hat keine eigentliche Entscheidungsfreiheit.
»Du bist ja wohl wahnsinnig, Mann. Das ist verbotenes Gebiet. Spring ins Meer, Mann, spring lieber ins Meer.«
»Du mußt«, sage ich. »Sonst bin ich gezwungen, auf die Brücke zu gehen und sie zu bitten, dich zu holen und unter Zeugen deine Ärmel aufrollen zu lassen, damit sie dich in die Sanitätsstube stecken, auf die Pritsche binden und vor der verschlossenen Tür eine Wache aufstellen können.«
»Das würdest du nie tun, Mann.«
»Mein Herz würde bluten. Wenn ich einen Seehelden denunzieren müßte. Aber ich wäre dazu gezwungen.«
Er starrt mich ungläubig an, kämpft mit dem Zweifel.
»Außerdem würde ich Verlaine gegenüber ein paar Worte darüber fallenlassen, was du gesehen hast.«
Das haut ihn um. Er zittert unkontrollierbar.
»Er würde Hackfleisch aus mir machen«, sagt er. »Wie kannst du nur, nachdem ich dich gerettet habe?«
Vielleicht könnte ich ihn dazu bringen zu
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