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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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aber runter. Er folgt mir mit gesenktem Kopf. Wenn sich die Gelegenheit bietet, wird er sich revanchieren und mich treten oder mich an den ersten besten verkaufen oder mir von hinten den letzten Schubs geben. In diesem Moment aber ist er eingeschüchtert.
    Jeder Raum, der irgendeiner Gemeinschaft dient, wird unwirklich, wenn man ihn verläßt. Theaterbühnen, Kirchen, Speisesäle. Die Messe ist dunkel und ohne Leben, aber trotzdem von der Erinnerung an Leben und Mahlzeiten bevölkert.
    In der Kombüse riecht es stark nach Säure, Hefe und Alkohol. Urs hat mir erzählt, daß sein Brot sechs Stunden geht, von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens. Uns bleiben anderthalb, höchstens zwei Stunden.
    Als ich die beiden Schiebetüren öffne, wird Jakkelsen klar, was passieren soll.
    »Ich wußte ja, daß du verrückt bist, Mann. Aber so verrückt . . .«
    Der Küchenaufzug ist saubergemacht worden. Und ein Tablett mit Tassen, Untertassen, kleinen Tellern, Besteck und Servietten steht darin, Urs' symbolische Vorbereitung auf den morgigen Tag.
    Ich nehme das Tablett mit dem Geschirr heraus.
    »Ich kriege Klaustrophobie«, sagt Jakkelsen.
    » Du sollst ja schließlich nicht mit dem Ding hochfahren.«
    »Kriege ich auch für andere.«
    Der Kasten ist rechteckig. Ich setze mich auf den Küchentisch und krieche seitlich hinein. Erst probiere ich, wie weit ich den Kopf zwischen die Knie drücken kann. Dann schiebe ich mich zur Hälfte mit dem Oberkörper hinein.
    »Du schickst mich zum Bootsdeck hoch. Wenn ich draußen bin, muß der Aufzug dableiben. Um keinen unnötigen Lärm zu machen. Danach gehst du die Treppe hoch und wartest. Wenn dich jemand wegschickt, bleibst du trotzdem. Wenn sie darauf bestehen, gehst du in deine Kajüte. Du gibst mir eine Stunde. Wenn ich bis dann nicht zurückgekommen bin, weckst du Lukas.«
    Er ringt die Hände.
    »Ich kann das nicht machen, Mann, ich kann das nicht.«
    Ich muß die Beine strecken und zugleich aufpassen, daß ich mit den Händen nicht in den Sauerteig komme, der zum Gehen auf dem Tisch steht.
    »Warum nicht?«
    »Er ist mein Bruder, Mann. Deshalb bin ich doch hier, verstehste. Deshalb habe ich doch einen Schlüssel, verstehste. Er glaubt, ich bin clean.«
    Ich fülle die Lunge ein letztes Mal bis in die Spitzen, atme aus und zwänge mich ganz in den kleinen Kasten hinein.
    »Wenn ich innerhalb von einer Stunde nicht zurück bin, weckst du Lukas. Das ist deine einzige Chance. Wenn ihr mich nicht holt, erzähle ich alles Tørk. Er wird dafür sorgen, daß Verlaine sich um dich kümmert. Verlaine ist sein Mann.«
    Wir haben kein Licht gemacht, die Kombüse ist dunkel, abgesehen von dem schwachen Schein des Meeres und dem Widerschein des Nebels. Trotzdem merke ich, daß ich Jakkelsen getroffen habe. Ich bin froh, daß ich sein Gesicht nicht sehen kann.
    Ich ziehe den Kopf zwischen die Knie. Die Türen werden zusammengeschoben. Unter mir spüre ich das leichte Summen des Elektromotors. Ich steige hoch.
     
    Die Bewegung dauert vielleicht fünfzehn Sekunden. Der einzige Gedanke ist: Hilflosigkeit. Die Angst vor dem, was mich dort oben erwartet.
    Ich hole den Schraubenzieher heraus. Damit ich etwas zu bieten habe, wenn sie die Türen aufreißen und mich herausziehen.
    Doch es passiert nichts. Der Aufzug in seinem Schacht aus Dunkelheit bremst, ich bleibe sitzen, und es gibt nichts außer dem Schmerz auf der Rückseite meiner Schenkel, der Bewegung des Schiffs in der See und dem fernen Maschinenlärm, den man jetzt kaum spürt.
    Ich stecke den Schraubenzieher zwischen die beiden Gleittüren und drücke sie auseinander. Dann krieche ich auf dem Rücken auf eine Tischplatte hinaus.
    In den Raum fällt schwaches Licht. Es ist die Motorlaterne des Hintermasts, die durch ein Oberlicht scheint. Der Raum ist eine Art Teeküche mit Kühlschrank, Anrichte und zwei Kochplatten.
    Eine Tür führt auf einen schmalen Flur hinaus. In dem Flur hocke ich mich hin und warte.
    Manche Menschen gehen in Übergangssituationen zugrunde. In Scoresbysund schossen sie mit der Schrotflinte auf die Köpfe, wenn der Winter anfing, den Sommer umzubringen. Es ist keine Kunst, auf der Wohlstandswelle mitzuschwimmen, wenn alles ein für allemal im Lot ist. Das Schwere ist das Neue. Das neue Eis. Das neue Licht. Die neuen Gefühle.
    Ich setze mich. Das ist meine einzige Chance. Es ist die einzige Chance aller Menschen. Sich die notwendige Zeit zu nehmen, heimisch zu werden.
    Das Schott vor mir bebt. Das ist die ferne

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