Peter Hoeg
begreifen. Aber dazu wäre eine Erklärung nötig, die ich ihm nicht geben kann.
»Ich will«, sage ich, »ich will wissen, was wir da oben holen sollen. Wofür der Tank eingerichtet ist.«
»Warum, Smilla?«
Es beginnt und endet mit einem Menschen, der von einem Dach fällt. Dazwischen aber liegt eine Reihe von Zusammenhängen, die sich vielleicht nie erklären lassen. Und Jakkelsen braucht eine beruhigende Erklärung. Europäer brauchen leichte Erklärungen. Sie ziehen jederzeit eine eindeutige Lüge einer widersprüchlichen Wahrheit vor.
»Weil ich in der Schuld stehe«, sage ich. »Bei jemandem, den ich liebe.«
Das ist kein Versprecher, dieses Präsens. Jesaja hat nur in einem engen, physischen Sinne aufgehört zu existieren.
Jakkelsen starrt mich desillusioniert und melancholisch an.
»Du liebst niemanden. Du kannst dich nicht mal selber leiden. Du bist gar keine richtige Frau. Als ich dich die Treppe hochgezogen habe, habe ich den kleinen Zapfen gesehen, der aus dem Sack herausgeguckt hat. Ein Schraubenzieher. Wie ein kleiner Ständer. Du hast ihn niedergestochen, Mann.«
Sein Gesicht ist voller Verwunderung. »Ich werde aus dir nicht schlau, Mann. Du bist die gute Fee im Affenkäfig. Aber du bist verdammt noch mal auch kalt, Mann, du hast was vom Klabautermann.«
Als wir auf das offene Halbdach des Oberdecks hinaustreten, schlägt die Uhr auf der Brücke zwei Doppelschläge, es ist zwei Uhr nachts, mitten in der Hundewache.
Der Wind hat sich gelegt, die Temperatur ist gefallen, und pujuq , der Nebel, hat um die Kronos vier weiße Wände hochgezogen.
Jakkelsen neben mir zittert bereits. Er hat der Kälte nichts entgegenzusetzen.
Mit den Konturen des Schiffes ist etwas geschehen. Mit der Reling, den Masten, den Scheinwerfern, der Funkantenne, die in dreißig Meter Höhe vom vorderen zum hinteren Mast reicht. Ich reibe mir die Augen. Aber es liegt nicht an meiner Sehkraft.
Jakkelsen legt einen Finger auf die Reling und zieht ihn wieder zurück. An der Stelle bleibt ein schwarzer Fleck, dort hat sich der Finger durch die feine, milchige Eisschicht geschmolzen.
»Es gibt zwei Arten von Vereisung, verstehste. Die häßliche, die daher kommt, daß die Brecher auf Deck schlagen und festfrieren. Immer mehr und immer schneller, wenn die Wanten und alles Aufrechtstehende erst mal anfangen, dick zu werden. Und dann die richtig schlimme. Die vom Seenebel kommt. Dazu braucht es keine Brecher, die legt sich einfach um alles. Wie etwas, was einfach da ist.« Er deutet in die Weiße hinaus.
»Das hier ist der Anfang der schlimmen. Noch vier Stunden, und wir können die Eispickel rausholen.«
Seine Bewegungen sind kraftlos, aber seine Augen leuchten. Er würde es hassen, Eis hacken zu müssen. Doch irgendwo entfacht selbst diese Seite des Ozeans in ihm eine wilde Freude.
Ich gehe zehn Meter auf das Vorschiff hinaus. Wo man mich von der Brücke aus nicht sehen kann. Wo ich aber einen Teil der Fenster auf dem Bootsdeck überblicken kann. Sie sind alle dunkel. Alle Fenster in den Aufbauten sind dunkel, abgesehen von einem schwachen Licht in der Offiziersmesse. Die Kronos schläft.
»Sie schlafen.« Er ist auf dem Achterdeck gewesen, um zu den nach hinten gehenden Fenstern hinaufzuschauen.
»Wir sollten zum Teufel noch mal alle schlafen.«
Wir steigen die drei Stockwerke zum Bootsdeck hoch. Er geht bis zum nächsten Absatz weiter. Von dort aus kann er sehen, ob jemand die Brücke verläßt. Und ob vielleicht jemand das Bootsdeck verläßt. In einem Sack beispielsweise.
Ich habe meine schwarze Servieruniform an. Als Ausrede ist sie, hier und um zwei Uhr nachts, fast wertlos. Mir ist nichts anderes eingefallen. Ich tue alles mit dem Gefühl, das Denken los zu sein. Weil es nur den Weg nach vorn gibt und keine Möglichkeit stehenzubleiben. Ich stecke Jakkelsens Schlüssel in das Schloß. Er paßt perfekt. Läßt sich aber nicht drehen. Die Schloßkombination ist geändert worden.
»Das ist ein Zeichen, Mann. Daß wir das lassen sollen.«
Er ist heruntergekommen und steht direkt hinter mir. Ich packe seine Unterlippe. Der Bluterguß ist noch nicht abgeschwollen. Er würde protestieren, wenn ich ihm nicht den Mund zuhalten würde.
»Wenn das ein Zeichen ist, dann dafür, daß hinter dieser Tür etwas steckt, das wir nicht sehen sollen, und daß sie sich alle Mühe gegeben haben, uns daran zu hindern.«
Ich habe es ihm ins Ohr geflüstert. Jetzt lasse ich ihn los. Er möchte eine Menge sagen, schluckt es
Weitere Kostenlose Bücher