Peter Hoeg
befördert sie über die Schiffsseite weiter.
An Backbord schlägt Jakkelsen mit einem kurzen Hammer Eis von den Radarsockeln. Er arbeitet sich zu mir hin. Irgendwann decken uns die Scanner gegen das übrige Dach ab.
Er steckt den Hammer in die Jackentasche. Dann lehnt er sich an das Radar. Aus seiner Tasche zieht er eine Zigarette.
»Wie du vorausgesagt hast«, sage ich. »Die schlimme Vereisung.«
Sein Gesicht ist weiß vor Müdigkeit. »Nein«, erwidert er. »Die fängt erst bei fünf bis sechs Beaufort und direkt um den Gefrierpunkt an. Er hat uns zu früh an Deck gerufen.«
Er sieht sich um. In unmittelbarer Nähe ist niemand.
»Als ich zur See gefahren bin, verstehste, da hat der Kapitän das Schiff geführt, und die Zeit hat man nach dem Kalender gemessen. Wenn man in eine Vereisung hineinfuhr, hat man die Geschwindigkeit gedrosselt. Oder die Route geändert. Oder man ist umgekehrt und mit dem Wind gefahren. Das hat sich erst in den letzten paar Jahren schwer geändert. Jetzt bestimmen die Reedereien, jetzt lenken die Büros in den großen Städten die Schiffe. Und die Zeit mißt man damit.«
Er tippt auf seine Armbanduhr.
»Wir müssen offenbar irgendwas schaffen. Sie haben ihm den Befehl gegeben weiterzufahren. Und das tut er dann. Er verliert allmählich seinen touch . Denn wenn wir sowieso durchmüssen, hatte er keinen Grund, uns jetzt an Deck zu rufen. Ein kleineres Schiff erträgt eine Vereisung von zehn Prozent seines Deplacements. Wir könnten mit fünfhundert Tonnen Eis fahren, ohne daß das etwas ausmachen würde. Er hätte ein paar von den Jungs hochschicken und die Antennen freihacken lassen können.« Ich schabe Eis von der Peilantenne. Wenn ich arbeite, bin ich wach. Sobald ich aufhöre, überkommt mich für kurze Momente der Schlaf.
»Er hat Angst, daß wir die Geschwindigkeit nicht halten können. Angst, daß uns etwas bersten könnte. Oder daß es plötzlich schlimmer wird. Es sind seine Nerven. Er ist mit den Nerven am Ende.«
Er läßt seine Zigarette halb geraucht auf das Eis fallen. Eine neue Nebelbank zieht an uns vorbei. Die Feuchtigkeit scheint sich förmlich an das Eis zu kleben. Einen Moment lang ist Jakkelsen fast nicht zu sehen.
Ich arbeite mich um das Radar herum. Ich sorge dafür, daß ich die ganze Zeit über in Jakkelsens und Sonnes Blickfeld bin.
Verlaine ist direkt neben mir. Seine Schläge gehen so dicht an mir vorbei, daß mir der Druck gefrorene Luft ins Gesicht preßt. Sie landen mit der Präzision eines chirurgischen Schnitts am Fuß des Metallsockels und reißen eine glasklare Eisplatte los. Er tritt sie zu Sonne hinüber.
Sein Gesicht ist neben meinem.
»Warum?« fragt er.
Ich halte den Eispickel ein bißchen hinter dem Rücken. Ein Stück weiter weg, außer Hörweite, reinigt Sonne mit dem Schaufelstiel den Mastfuß.
»Ich weiß, warum«, sagt er. »Lukas hätte es sowieso nicht geglaubt.«
»Dann hätte ich von Maurice' Wunde reden können«, erwidere ich.
»Ein Arbeitsunfall. Das Winkelschleifgerät ging los, als er die Scheibe auswechseln wollte. Der Spannschlüssel hat ihn an der Schulter getroffen. Das ist gemeldet und erklärt.«
»Ein Unfall. Wie bei dem Jungen auf dem Dach.«
Sein Gesicht ist dicht an meinem. Es drückt nur Verständnislosigkeit aus. Er hat keine Ahnung, wovon ich rede.
»Aber mit Andreas Licht«, sage ich, »mit dem alten Mann auf dem Schiff, da war das Ganze ein bißchen ungeschickter.«
Sein Körper verspannt sich und läßt die Illusion entstehen, daß er einfriert wie das Schiff.
»Ich habe euch am Kai gesehen«, lüge ich. »Als ich an Land geschwommen bin.«
Während er sich noch überlegt, welche Konsequenzen das Gesagte hat, gibt er sich eine Blöße. Eine Sekunde lang schaut mich von irgendwoher aus seinem Körper ein krankes Tier an. Sein Körper ist wie seine Zähne, eine dünne Schale über einer Mißhandlung, die sich in Sadismus verkehrt hat.
»In Nuuk wird es eine Ermittlung geben«, sage ich. »Polizei und Marine. Allein der Mordversuch würde dir schon zwei Jahre einbringen. Jetzt werden sie auch noch in Lichts Tod herumbohren.«
Er lacht mich an, ein großes, weißes Lächeln.
»Wir laufen Godthåb gar nicht an. Wir laufen das Tanker-Schwimmdock an. Es liegt zwanzig Seemeilen vom Land entfernt. Man sieht die Küste nicht mal.«
Er sieht mich neugierig an.
»Sie wehren sich ordentlich«, sagt er. »Fast schade, daß Sie allein sind.«
II
1
»Ich denke«, sagt Lukas, »an den kleinen Kapitän auf
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