Peter Hoeg
habe.
»Der Baffinstrom hat das Westeis seit Dezember zum 67. Breitengrad heruntergeführt. Es ist irgendwo zwischen zweihundert und vierhundert Seemeilen draußen in der Davisstraße mit dem Neueis zusammengefroren. Tørk will uns in die Nähe dieser Gegend bringen. Deshalb werden wir einen deutlich nördlichen Kurs bekommen.«
»Sind Sie schon einmal mit einem Schiff hiergewesen, Jaspersen?«
»Ich bin wasserscheu. Aber ich verstehe was vom Eis.«
Er beugt sich über die Karte.
»In dieser Jahreszeit ist noch nie jemand weiter als bis nach Holsteinsborg gefahren. Nicht einmal in den Fjorden. Die Strömung hat die Treibeisdecke und das Westeis aufeinandergepackt und zu einem Betonboden gemacht. Wir könnten vielleicht gerade mal zwei Tage nach Norden fahren. Ich frage mich nur: Was will er, was sollen wir am Eisrand machen?«
Ich richte mich auf.
»Ohne Einsatz kein Spiel, Herr Kapitän.«
Einen Moment lang glaube ich, daß ich ihn verloren habe. Dann nickt er.
»Es ist, wie Sie gesagt haben«, sagt er langsam. »Wir warten. Das ist alles, was ich erfahren habe. Wir warten auf einen vierten Passagier.«
Die Kronos hat fünf Stunden zuvor den Kurs geändert. Vor der Messe hängt eine niedrige, matte Sonne, an ihrer Position sehe ich es mit Sicherheit. Aber ich habe es schon vorher gespürt.
In den Eßsälen der Internate verwuchsen die Schüler förmlich mit ihren Plätzen. In allen unstabilen Zusammenhängen werden die wenigen äußeren Fixpunkte wichtig. In der Messe der Kronos sitzen wir wie festgeleimt auf unseren Stühlen. Jakkelsen ißt am Nebentisch, blaß und in sich gekehrt hat er den Kopf über den Teller gebeugt. Fernanda und Maria vermeiden es, mich anzusehen.
Maurice ißt mit dem Rücken zu mir. Er ißt nur mit der rechten Hand. Die linke ist mit einer Schlinge hochgebunden, die den schweren Verband an der Schulter teilweise verdeckt. Er hat ein Arbeitshemd an, dessen einer Ärmel abgeschnitten worden ist, um dem Verband Platz zu machen.
Mein Mund ist trocken vor Angst. Solange ich an Bord bin, werde ich sie nicht mehr loswerden. Als ich gehe, ist Jakkelsen hinter mir.
»Wir haben den Kurs gewechselt! Wir sind auf dem Weg nach Godthåb.«
Ich entschließe mich, in der Offiziersmesse sauberzumachen. Wenn Verlaine hinter mir her ist, muß er über die Brücke. Wenn wir auf dem Weg nach Nuuk sind, muß er kommen. Sie können mich unmöglich in einem großen Hafen an Land gehen lassen.
Ich bleibe vier Stunden in der Messe. Ich putze die Fenster, poliere die Messingleisten und reibe zuletzt die Paneele mit Teakholzöl ein.
Irgendwann kommt Kützow vorbei. Als er mich sieht, verzieht er sich schleunigst.
Dann taucht Sonne auf. Er bleibt eine Zeitlang stehen und wippt auf den Fußballen. Ich habe ein kurzes blaues Kleid angezogen. Vielleicht faßt er das als Einladung zum Bleiben auf. Das ist ein Mißverständnis. Ich habe es an, um möglichst schnell laufen zu können. Als er keine Aufmunterung bekommt, geht er wieder. Er ist zu jung, um anzubändeln, und nicht alt genug, um aufdringlich zu werden.
Um vier legen wir hinter dem roten Hochhaus an. Eine halbe Stunde später werde ich auf die Brücke gerufen.
»In dieser Jahreszeit«, sagt Lukas, »gibt es nur eine Chance, weiter nach Norden zu kommen. Es sei denn, man hat einen Eisbrecher dabei. Und selbst dann ist die Chance nicht groß. Man muß weiter aufs Meer hinaus. Sonst wird man in einer Bucht gefangen, plötzlich hat sich das Eis hinter einem geschlossen, und da sitzt man dann.«
Ich könnte ihn belügen. Doch er ist einer der ganz wenigen Strohhalme, an die ich mich noch klammern kann. Er ist ein Mann auf dem absteigenden Ast. Vielleicht wird er in allernächster Zukunft so weit unten landen, daß wir uns begegnen können.
»Beim 54. Längengrad«, sage ich, »fällt die Wassertiefe. Ein Arm des Weststroms biegt von der Küste ab und trifft auf den relativ kälteren Nordstrom. Und es entsteht, westlich der großen Fischgründe, ein Gebiet mit instabilem Wetter.«
»›Das Nebelmeer‹. Bin nie da gewesen.«
»Eine Zone, wo die größten Eisstücke von der Westküste hingeführt werden und nicht wieder herauskommen. Genau wie beim Friedhof der Eisberge nördlich von Upernavik.«
Mit der Ecke des Lineals suche ich ein dunkles Gebiet auf der Eiskarte.
»Zu klein, um deutlich eingezeichnet zu sein. Oft – und vielleicht auch jetzt – hat es die Form einer langen Bucht, wie ein Fjord im Packeis. Riskant, doch befahrbar.
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