Peter Hoeg
der Brücke da oben. Er führt kein Schiff mehr. Er übt keine Autorität mehr aus. Er ist nur noch die Kupplung, die Impulse auf eine komplizierte Maschine überträgt.«
Lukas steht an das Geländer der Nock gelehnt. Vor dem Steven der Kronos wächst ein Hochhaus aus roter Polyemaille aus dem Meer. Es türmt sich über dem Vordeck auf und überragt die Spitze der Masten. Wenn man den Kopf in den Nacken legt, sieht man jedoch, daß unter dem grauen Himmel selbst dieses Phänomen irgendwo ein Ende hat. Es ist kein Haus. Es ist das Heck, der Spiegel eines Supertankers.
Als ich Kind in Qaanaaq war, in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, war selbst die europäische Uhrzeit langsamer. Die Veränderungen kamen mit einem Tempo, das Protest noch zuließ. Die Auflehnung äußerte sich zunächst in dem Begriff »die gute alte Zeit«. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit war damals in Thule ein völlig neues Gefühl. Sentimentalität ist die erste Revolte des Menschen gegen den Fortschritt.
Diese Reaktion ist inzwischen passé. Jetzt ist ein anderer Protest notwendig als die tränenselige Heimatduselei. Jetzt geht es nämlich so schnell, daß wir hier und jetzt in dem leben, was im nächsten Augenblick schon die gute alte Zeit sein wird.
»Für diese Schiffe«, sagt Lukas, »existiert die Umwelt nicht mehr. Wenn man ihnen auf offener See begegnet und sie über VHP anzurufen versucht, um Wettermeldungen und Positionen auszutauschen oder nach Eisvorkommen zu fragen, antworten sie nicht. Sie haben den Empfänger gar nicht eingeschaltet. Wenn man 250.000 Kubikmeter Wasser verdrängt, Pferdestärken wie ein Kernkraftwerk entwickelt und einen Elektronenrechner hat, der so groß ist wie eine altmodische Schiffskiste und Kurs und Geschwindigkeit ausrechnet und sie dann einhält oder leicht davon abweicht, wenn es notwendig sein sollte, dann hat man aufgehört, sich für die Umwelt zu interessieren. Dann gibt es von der Welt nur noch den Hafen, von dem man ausläuft, den Ort, den man anläuft, und den Auftraggeber, der bezahlt, wenn man angekommen ist.«
Lukas hat abgenommen. Er hat angefangen zu rauchen.
Deshalb kann er trotzdem recht haben. Es ist ein grönländisches Entwicklungssyndrom, daß alles erst neulich stattgefunden zu haben scheint. Die neuen schwerbewaffneten und schnellen Inspektionsschiffe der dänischen Marine sind gerade erst eingesetzt worden. Das EG-Referendum und die knappe Mehrheit für den Austritt ab 1. Januar 1985, die neuen Verhandlungen im November '92 und der Wiedereintritt zum 1. Januar 1993, die größte außenpolitische Kehrtwende aller Zeiten, das alles liegt gerade erst hinter uns. Das Verteidigungsministerium hat gerade kürzlich aus militärischen Gründen die Einreiseerlaubnis nach Qaanaaq begrenzt. Und der Ort, an dem wir stehen – die große schwimmende Ölpier Greenland Star vor Nuuk, 25.000 miteinander verbundene und 700 Meter unter uns im Meeresboden vertäute Eisenpontons, ein halber Quadratkilometer potthäßliches und trostlos sturmgezaustes grüngestrichenes Eisen, zwanzig Seemeilen vor der Küste –, all das ist gerade erst neulich gebaut worden. Die Politiker benutzen dafür das Wort ›dynamisch›.
All das wurde geschaffen, um zu zwingen.
Nicht, um die Grönländer zu zwingen. Die militärische Präsenz, die direkte Gewalt der Zivilisation, das ist in der Arktis allmählich vorbei. Die Entwicklung macht das nicht mehr erforderlich. Jetzt reicht der liberale Appell an die Habgier in allen ihren Schattierungen.
Die technologische Kultur hat die Völker um die Eismeere nicht kaputtgemacht. Wer das glaubt, hat eine viel zu hohe Meinung von dieser Kultur. Sie war nur ein Initiator, ein kosmisches Modell für die Möglichkeit – die in jeder Kultur und in jedem Menschen liegt –, das Dasein um die besondere westliche Mischung aus Raffgier und Bewußtlosigkeit zu zentrieren.
Sie wollen das nächste, das Größere in die Knie zwingen, das, was um die Menschen ist. Das Meer, die Erde, das Eis. Die Konstruktion zu unseren Füßen ist ein solcher Versuch.
In Lukas' Gesicht wütet das Unbehagen.
»Früher, bis '92, gab es nur Polaroil bei Færingshavn. Ein kleiner Ort. Auf der einen Seite des Fjords eine Telestation und eine Fischfabrik. Auf der anderen Seite die Anlage. Verwaltet von der Grönländischen Handelsgesellschaft. Wir konnten bis zu 50.000 Tonnen vertäuen. Wenn wir die Schwimmschläuche ausgelegt hatten, gingen wir an Land. Es gab nur ein Wohnhaus, eine
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