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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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selbst. Er hat am Schreibtisch gearbeitet. Die Schreibgeräte sind wegräumt, alles, was rollen kann, muß auf einem Schiff weggeräumt werden. Doch die Papiere liegen noch da. Ein ganzer Stapel, aber nicht so groß, daß ich ihn nicht tragen könnte.
    Ich bleibe einen Augenblick stehen und sehe Tørk an. Wundere mich, wie so viele Male zuvor seit meiner Kindheit, wie total wehrlos die Menschen im Schlaf sind. Ich könnte mich zu ihm hinunterbeugen, ich könnte ihn küssen. Ich könnte seinen Herzschlag fühlen. Ich könnte ihm die Kehle durchschneiden. Ich begreife plötzlich, daß ich oft wach gewesen bin, während andere geschlafen haben, mein Leben hat sich einfach so gestaltet. Ich habe viele späte Nächte und viele frühe Morgen gesehen. Ich habe es nicht so gewollt, doch so ist es nun einmal gekommen.
    Ich nehme den Papierstapel mit in den Salon. Es bleibt keine Zeit, ihn zu mir mitzunehmen.
    Ich bleibe einen Augenblick sitzen, ohne Licht zu machen. Der Raum hat auf einmal etwas Feierliches. Als hätte das Mondlicht alles in blaugrauem Glas verkapselt.
    Jeder träumt davon, den Schlüssel zu sich und seiner Zukunft zu finden. Den Religionsunterricht in der Sonntagsschule in Qaanaaq gab ein Katechet der Herrnhuter Mission, ein introvertierter und brutaler Mathematiker, der kein Wort Thuledialekt sprach. Der Unterricht ging in einer aberwitzigen Mischung aus Englisch, Westgrönländisch und Dänisch über die Bühne. Wir fürchteten den Mann, doch er interessierte uns auch. Man hatte uns dazu erzogen, die Tiefe zu respektieren, die im Wahnsinn liegen kann. Sonntag für Sonntag kreiste der Mann um zwei Dinge. Um die in dem neuentdeckten Nag-Hammadi-Kanon enthaltene Aufforderung, sich selbst kennenzulernen, und um den Gedanken, daß unsere Tage gezählt sind, daß es im Universum also eine göttliche Arithmetik gibt. Wir waren alle zwischen fünf und neun Jahre alt. Wir verstanden kein Wort. Trotzdem erinnerte ich mich später noch an einiges. Vor allem dachte ich, würde ich gern die kosmische Berechnung meines Lebens sehen.
    Ab und zu habe ich das Gefühl, als sei dieser Augenblick gekommen. So wie jetzt. Als hätte der Stapel Papier, der vor mir liegt, etwas Entscheidendes über meine Zukunft zu sagen.
    Die Ahnen meiner Mutter hätten sich gewundert, wenn sie gewußt hätten, daß für einen ihrer Nachkommen der Schlüssel zum Universum ein schriftlicher sein würde.
    Obenauf liegt eine Kopie des Berichts der Kryolithgesellschaft Dänemark über die Expedition von 1991 nach Gela Alta. Die letzten sechs Seiten sind keine Kopien. Es sind die originalen, leicht verwackelten und technisch unzulänglichen Luftaufnahmen des Barrengletschers. Er sieht aus wie sein Ruf. Trocken, kalt, weiß, abgewetzt, windzerzaust und sogar von den Vögeln verlassen.
    Es folgen etwa zwanzig handgeschriebene Seiten mit Zahlen und kleinen Bleistiftzeichnungen, die mir unverständlich sind.
    Zwölf Fotografien sind Kopien von Röntgenaufnahmen. Möglicherweise sind das die Personen, die ich auf dem Lichtschirm in Moritz' Sprechzimmer gesehen habe. Möglich, daß sie irgend etwas anderes darstellen. Noch mehr Fotografien. Auch diese möglicherweise mit Röntgen aufgenommen. Doch das Motiv sind keine Menschenkörper. Über dem Bild liegen regelmäßige, gerade schwarze und graue Streifen, wie mit dem Lineal gezogen.
    Die letzten Seiten sind von eins bis fünfzig durchnumeriert und bilden eine Einheit. Es ist ein Bericht. Der Text ist sparsam, die vielen Tuschezeichnungen sind skizzenhaft, an mehreren Stellen, wo der Schreibmaschine die Symbole gefehlt haben, sind die Berechnungen mit der Hand eingefügt worden. Es handelt sich um Erfahrungen beim Transport von Gegenständen mit großer Masse über Eis. Mit Zeichnungen für den Arbeitsablauf und kurzen, anschaulichen Berechnungen der mechanischen Verhältnisse.
    Der Bericht enthält auch eine Zusammenfassung der Erfahrungen mit dem Einsatz von Lastschlitten bei Nordpolexpeditionen. Eine Reihe von Zeichnungen zeigt, wie man Schiffe über das Eis gezogen hat, damit sie nicht unter das Eis gedrückt wurden.
    Mehrere Abschnitte haben als Überschrift kurze Namen, Ahnighito, Dog, Savik I, Agpalilik . Sie behandeln den Transport der größten bekannten Meteoritenfragmente vom Kap-York-Einschlag. Pearys komplizierte Bergung und die Fahrt auf dem Schoner Kite, Knud Rasmussens Registrierung, Buchwalds legendären Transport des dreißig Tonnen schweren Ahnighito im Jahre 1965.
    Dieser letzte

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