Peter Hoeg
ich zwölf Plomben. Jedes Jahr kommt eine neue dazu. Ich will mich nicht betäuben lassen. Ich habe eine Strategie entwickelt, um dem Schmerz zu begegnen. Ich atme mit dem Magen, und kurz bevor der Bohrer den Schmelz zum Zahnbein durchbricht, denke ich, daß man jetzt etwas mit mir tut, was ich akzeptieren muß. Dadurch werde ich zu einem engagierten, doch nicht selbstvergessenen Zuschauer des Schmerzes.
Ich war im Landsting dabei, als die Siumutpartei den Vorschlag einbrachte, den geplanten Rückzug der amerikanischen und dänischen Truppen aus Grönland durch die Aufstellung eines grönländischen Heeres einzuleiten. Aber so nannten sie das natürlich nicht. Ein dezentraler Küstenschutz, hieß es, zunächst einmal rekrutiert aus den Grönländern, die in den letzten drei Jahren als Sergeanten in der Marine gedient hatten. Und geführt von Offizieren, die in Dänemark ausgebildet werden sollten.
Ich dachte, das ist unmöglich, das tun sie nicht.
Der Vorschlag fand keine Mehrheit. »Wir finden das Abstimmungsergebnis überraschend«, sagte Julius Høeg, der außenpolitische Sprecher der Siumut, »besonders in Anbetracht der Tatsache, daß der sicherheitspolitische Ausschuß dieses Parlaments einen Küstendienst empfohlen und eine vorbereitende Arbeitsgruppe aus Vertretern der dänischen Marine, der grönländischen Polizei, der Siriuspatrouille, des Eismeldedienstes und anderen Sachverständigen eingesetzt hat.«
Und anderen Sachverständigen. Die wichtigsten Informationen kommen immer zuletzt. Sozusagen en passant. In einem sideletter . Am Rand.
Das Sicherheitspersonal auf der Greenland Star bestand aus Grönländern. Erst jetzt fällt mir das auf, jetzt, wo sie hinter uns liegt. Was selbstverständlich geworden ist, sehen wir nicht mehr. Bewaffnete Grönländer in Uniform sind selbstverständlich geworden. Es ist selbstverständlich für uns geworden, Krieg zu führen.
Auch für mich. Alles, was mir darüber hinaus noch bleibt, ist meine Distanz.
Was hier passiert, geschieht mit mir, der Schmerz ist meiner, aber er absorbiert mich nicht völlig. Ein Teil von mir ist Zuschauer.
Ich krieche in den Küchenaufzug. Das ist seit gestern nicht leichter geworden. Man wird ja schließlich nicht jünger.
Jetzt bin ich froh, daß es keine Sicherheitsvorrichtung gibt. Das lebensgefährliche System läßt es zu, daß ich mich selbst nach oben drücke.
Der Sog der Furcht auf dem Weg durch den Schacht nach oben ist derselbe. Die Stille am Ende des Weges. Die leere Küche.
Durch das Oberlicht scheint der Mond herein. Auf dem Weg zur Tür habe ich eine Vision von mir, ich sehe mich, wie ich von außen aussehen muß. Schwarz gekleidet, aber bleich wie der weiße Clown.
Im Korridor dieselben Geräusche. Die Maschine, die Toiletten, die Atemzüge einer Frau. Es ist, als sei die Zeit stehengeblieben.
Das Mondlicht, das in den Salon hereinströmt, ist blau und spürbar kalt, wie eine Flüssigkeit auf der Haut, durch die Bewegung des Schiffes auf dem Meer strecken sich die Silhouetten der Fensterkanten wie lebende Schatten über die Wände.
Ich suche zuerst nach den Büchern.
Der grönländische Lotse, das Kartenbuch von Grönland des Geodätischen Instituts, die Seekarten der Admiralität von der Davisstraße, auf ein Viertel verkleinert und in einem Buch gesammelt. Colbecks ›Dynamics of Snow and Ice Masses‹ über die Bewegung des Eises. Buchwalds ›Meteorites‹ in drei Bänden. Hefte von ›Naturens Verden‹ und ›Varv‹. Jawetz' und Melnicks ›Review of Medical Microbiology‹. Rintek Madsens ›Parasitologie – ein Handbuch‹. Dion R. Bell: ›Lecture Notes on Tropical Medicine‹.
Ich lege die beiden letzteren auf den Boden und blättere mit der Rechten, während ich mit der Linken die Lampe halte. Unter Dracunculus ist mit gelber Kontrastfarbe so viel unterstrichen worden, daß es aussieht, als hätte das Papier die Farbe gewechselt. Ich stelle beide Bände zurück.
Auf dem Flur horche ich lange, an jeder Tür. Dennoch ist es ein Zufall, daß ich Tørks Tür gleich beim erstenmal finde. Ich öffne sie drei Millimeter. Durch das Bullauge fällt das Mondlicht auf die Koje. In dem Raum ist es kalt. Trotzdem hat er die Bettdecke zur Seite geschoben. Sein Oberkörper gleicht bläulichem Marmor. Er schläft tief. Ich trete ein und schließe die Tür hinter mir. Es sind die Entscheidungen, die das Leben schwermachen. Wer gezwungen ist, immer vorwärts zu gehen, hat es einfach.
Alles ergibt sich von
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