Peter Hoeg
Abschnitt enthält Fotokopien von Buchwalds Fotografien. Ich habe sie bereits vor vielen Jahren gesehen, sie waren während der letzten zwanzig Jahre in jedem Aufsatz zu diesem Thema zu finden. Trotzdem sehe ich sie jetzt wie zum erstenmal. Die Rutschen aus ausgelegten Schwellen. Die Winden. Den grob zusammengeschweißten Schlitten aus Eisenbahnschienen. Die Fotokopien haben zu starke Kontraste, deshalb sind die Einzelheiten verwischt. Dennoch liegt die Sache jetzt auf der Hand. Daß die Achterladung der Kronos eine Kopie von Buchwalds Ausrüstung ist. Der Stein, den er nach Dänemark transportierte, wog dreißig Tonnen und achthundertachtzig Kilo.
Im letzten Abschnitt geht es um die dänisch-amerikanisch-sowjetischen Pläne für eine Bohrinsel auf dem Eis. In der Literaturliste ist der Bylot-Bericht über die Tragfähigkeit des Eises aufgeführt. Mein Name steht auf der Autorenliste.
Fast ganz unten in dem Haufen liegen sechs Farbfotos. Es sind Blitzlichtaufnahmen aus einer Art Tropfsteinhöhle. Jeder Geologiestudent hat solche Bilder schon mal gesehen. Die Salzminen in Österreich, die blauen Grotten auf Sardinien, die Lavahöhlen auf den Kanarischen Inseln.
Diese sind dennoch anders. Das Blitzlicht ist in blendenden Reflexen auf die Linse zurückgeworfen worden. Als sei es ein Bild von tausend kleinen Explosionen. Es ist in einer Eishöhle aufgenommen worden.
Die Eishöhlen, die ich gesehen habe, hatten alle nur eine sehr kurze Lebensdauer, bis sie der Gletscherbruch oder die Spalte verschloß oder sie durch unterirdische Schmelzwasserzuflüsse volliefen. Die Höhle auf den Fotos ist wie keine von denen, die ich schon einmal gesehen habe. Aus der Decke wachsen überall lange, glitzernde Tropfsteine, ein kolossales System aus Eiszapfen, das sich über lange Zeit hinweg gebildet haben muß.
In der Mitte der Höhle ist etwas, das aussieht wie ein See. Und im See liegt irgend etwas. Es kann alles mögliche sein. Das Foto läßt nicht einmal eine Vermutung zu.
Wenn man sich überhaupt eine Vorstellung von den Größenverhältnissen machen kann, dann nur, weil im Vordergrund ein Mann sitzt. Er sitzt auf einer der Erhöhungen, die das tropfende Wasser und die Kälte aus dem Boden der Höhle haben emporwachsen lassen. Er lacht triumphierend in die Kamera. Hier trägt er Daunenhosen. Aber immer noch Kamiken. Es ist Jesajas Vater.
Als ich den Stapel vom Tisch nehmen will, bleibt das letzte Blatt liegen, weil es dünner ist als die Fotografien. Es ist ein Blatt Schreibpapier mit einem Briefentwurf. Ein paar Zeilen mit Bleistift und vielen Streichungen. Danach zuunterst gelegt. Wie wenn man Tagebuch geschrieben hat. Oder sein Testament. Und eigentlich nicht dazu steht und findet, daß es nicht offen daliegen und die Bekenntnisse einfach so ausposaunen sollte. Es aber trotzdem in der Nähe haben muß. Vielleicht, weil man weiter daran arbeiten will.
Ich lese. Dann falte ich das Blatt zusammen und stecke es in die Tasche. Mein Hals ist staubtrocken. Meine Hände zittern. Was ich jetzt brauche, ist ein problemloser Abgang.
Ich habe bereits die Hand ausgestreckt, um Tørks Kajütentür zu öffnen, als es dahinter klickt und ein Lichtstreifen in den Korridor fällt. Ich trete zurück. Die Tür geht langsam auf. Sie öffnet sich zu mir. Das läßt mir Zeit, mir eine Tür rechts von mir auszusuchen, sie zu öffnen und in dem Raum zu verschwinden. Ich wage es nicht, die Tür zuzumachen, ziehe sie aber an. Der Raum ist dunkel. Die Fliesen unter meinen Füßen sagen mir, daß es ein Bad ist. Von außen wird das Licht angemacht. Ich ziehe mich hinter den Vorhang der Duschkabine zurück. Die Tür geht auf. Alles ist geräuschlos, doch ein paar Hände schweben in das längliche Blickfeld, wo der Vorhang nicht schließt. Es sind Tørks Hände.
Im Spiegel taucht sein Gesicht auf. Es ist so schlaftrunken, daß er sich nicht einmal selber sieht. Er senkt den Kopf, dreht den Hahn auf, läßt das Wasser kalt werden und trinkt. Dann richtet er sich auf, dreht sich um und geht hinaus. Seine Bewegungen sind mechanisch wie die eines Schlafwandlers.
In derselben Sekunde, in der sich die Tür zu seiner Kajüte schließt, bin ich auf dem Flur. In einer Sekunde wird er sehen, daß die Papiere fehlen. Ich will weg, aus der Etage verschwinden, bevor die Suche losgeht.
Das Licht geht aus. Seine Koje knarrt. Er ist zu seinem Schlaf im blauen Mondenschein zurückgekehrt.
Eine solche Chance, ein so leuchtendes Glück hat man nur einmal im Leben.
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