Peter Hoeg
abgehoben.
»Ja?«
Die Stimme ist nah, vollkommen deutlich, aber schlaftrunken. In Dänemark muß es gegen fünf Uhr morgens sein.
Ich sehe sie vor mir. Wie sie auf den Fotos in Ravns Portemonnaie ausgesehen hat. Weißhaarig, in einem Wollkostüm.
»Kann ich bitte mit Ravn sprechen?«
Als sie den Hörer hinlegt, weint irgendwo ganz in der Nähe ein Kind. Es muß in ihrem Schlafzimmer geschlafen haben. Vielleicht zwischen ihnen im Bett.
»Hier Ravn.«
»Ich bin es«, sage ich.
»Ein andermal.«
Weil seine Stimme so deutlich durchkommt, wirkt auch die Ablehnung sehr deutlich. Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber ich bin schon viel zu weit gegangen, als daß ich darüber noch nachgrübeln könnte.
»Zu spät«, sage ich. »Ich will darüber sprechen, was auf den Dächern so vor sich geht. In Singapur und in Christianshavn.«
Er antwortet nicht, bleibt jedoch am Hörer.
Unmöglich, ihn sich als Privatperson vorzustellen. Was hat er an, wenn er schläft? Wie sieht er jetzt aus, im Bett, neben seinem Enkel?
»Wir müssen uns vorstellen, daß es Spätnachmittag ist«, sage ich. »Der Junge geht allein vom Kindergarten nach Hause. Der einzige, der nicht jeden Tag abgeholt wird. Er geht, wie Kinder das immer tun. Ungleichmäßig, hopsend, den Blick gesenkt. Achtet nur auf die nächste Umgebung. So wie Ihre Enkel, Ravn.«
Ich höre seinen Atem so deutlich, als wäre er hier im Raum.
Der Mechaniker hat die eine Hörmuschel beiseite geschoben, um unser Gespräch verfolgen und zugleich auf den Gang hinaus hören zu können.
»Deshalb sieht er den Mann nicht, bis er direkt neben ihm steht. Er hat im Auto gewartet. Zum Parkplatz hin gibt es keine Fenster. Es ist fast dunkel. Wir haben Mitte Dezember. Der Mann packt ihn, nicht am Arm, sondern an der Kleidung. Am Latz seiner Regenschutzhosen, die nicht kaputtgehen können und wo man keine blauen Flecken hinterläßt. Aber jetzt verrechnet er sich. Der Junge hat ihn sofort erkannt. Sie haben Wochen zusammen verbracht. Doch er erinnert sich nicht deshalb an ihn. Er erinnert sich an ihn von einem der letzten Tage her. Er erinnert sich an den Tag, an dem er seinen Vater hat sterben sehen. Vielleicht hat er gesehen, wie der Mann die Taucher ins Wasser zurückgezwungen hat, nachdem einer von ihnen umgekommen war. Irgendwann, als sie noch nicht begriffen hatten, was los war. Oder vielleicht verknüpft sich für den Jungen mit diesem Mann auch nur das Erlebnis des Todes. Jedenfalls sieht er keinen Menschen vor sich. Er sieht eine Bedrohung. So wie nur Kinder Bedrohungen erleben können. Überwältigend. Zuerst erstarrt er. Alle Kinder erstarren zuerst.«
»Sie raten«, sagt Ravn.
Die Verbindung ist jetzt schlechter. Einen Moment lang bin ich nahe daran, den Faden zu verlieren.
»Auch das Kind neben Ihnen«, sage ich. »Das würde auch erstarren. Genau da aber verrechnet sich der Mann. Der Junge vor ihm sieht so klein aus. Er beugt sich zu ihm hinunter. Der Junge ist wie eine Puppe. Er will ihn auf den Sitz heben. Einen Moment lang läßt er ihn los. Das ist sein Fehler. Daß er nicht mit den Energien des Jungen gerechnet hat. Plötzlich rennt der Junge los. Der Schnee auf der Erde ist festgetrampelt. Deshalb holt ihn der Mann nicht ein. Auf Schnee zu rennen, darauf ist er nicht so gut trainiert wie der Junge.«
Jetzt hören beide aufmerksam zu, neben mir und über eine unendliche Entfernung hinweg. Aber sie hören nicht eigentlich mir zu. Es ist die Furcht, die uns verbindet, die Furcht des Kindes, das wir alle in uns haben.
»Der Junge läuft am Haus entlang. Der Mann geht auf die Fahrbahn hinaus und schneidet ihm von der Straße aus den Weg ab. Der Junge läuft an den Packhäusern entlang. Der Mann immer hinterher, gleitend, wankend. Doch jetzt ruhiger. Es gibt keinen Weg weg von hier. Der Junge dreht sich zu ihm um. Jetzt entspannt sich der Mann. Der Junge schaut sich um. Er hat aufgehört zu denken. Aber in ihm arbeitet ein Motor, der laufen wird, bis alle Kraft verbraucht ist. Mit diesem Motor hat der Mann nicht gerechnet. Plötzlich ist der Junge auf halbem Weg hinauf ins Gerüst. Der Mann folgt ihm. Der Junge weiß, was hinter ihm ist. Die personifizierte Angst. Er weiß, daß er sterben muß. Dieses Gefühl ist stärker als seine Höhenangst. Er klettert weiter, bis aufs Dach hinauf. Und dort läuft er vorwärts. Der Mann hält inne. Vielleicht hat er es von Anfang an so gewollt, vielleicht kommt ihm die Idee erst jetzt, vielleicht werden ihm seine eigenen
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