Peter Hoeg
damit. Die Vergangenheit ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr erlauben können.
»Føjl«, sage ich, »sollst du bei dem Stein tauchen?«
Er hat genickt. Ich habe nicht gehört, ob er etwas gesagt hat. Aber er hat genickt. Diese Bestätigung verstellt alles andere.
»Warum?« höre ich mich fragen.
»Er liegt in einem Schmelzwassersee. Er ist fast bedeckt. Er soll dicht unter der Eisoberfläche liegen. Seidenfaden meint, es sei nicht schwer dranzukommen. Entweder durch einen Schmelzwassertunnel. Oder durch die Spalten in einem Bruch, der direkt hinter dem Sattel liegt. Das Problem ist nur, ihn herauszukriegen. Seidenfaden meint, wir müssen den Tunnel, der den See drainiert, erweitern und den Stein dort durchbringen. Der Tunnel muß mit Sprengstoff erweitert werden. Alles Unterwasserarbeit.«
Ich setze mich neben ihn.
»Wasser«, sage ich, »gefriert bei null Grad Celsius. Welche Erklärung hat Tørk dir dafür gegeben, daß um den Stein Wasser ist?«
»Hat das nicht etwas mit dem Druck im Eis zu tun?«
»Doch. Es hat was mit dem Druck zu tun. Je tiefer du in einen Gletscher hineinkommst, desto wärmer wird es. Wegen des Drucks der Eismassen über dir. Das Inlandeis hat in fünfhundert Meter Tiefe minus dreiundzwanzig Grad. Noch fünfhundert Meter weiter unten sind es zehn Grad minus. Da der Schmelzpunkt druckabhängig ist, gibt es das tatsächlich: Wasser bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Vielleicht bei minus 1,6 oder bei 1,7. Es gibt temperierte Gletscher, in den Alpen oder in den Rocky Mountains, wo man ab dreißig Meter Tiefe Schmelzwasser findet.«
Er nickt »So hat Tørk es erklärt.«
»Aber Gela Alta liegt nicht in den Alpen. Es ist ein sogenannter ›kalter‹ Gletscher. Und er ist sehr klein. Im Moment wird seine Oberflächentemperatur minus zehn Grad betragen. Die Temperatur am Boden ist etwa ähnlich. Der Druckschmelzpunkt liegt um die null Grad. In diesem Gletscher kann sich nicht ein Tropfen Wasser in flüssiger Form bilden.«
Er trinkt und sieht mich an. Was ich gesagt habe, hat ihn nicht beunruhigt. Vielleicht hat er es nicht verstanden. Vielleicht ruft Tørk bei Menschen ein Vertrauen hervor, das sich gegen die Umwelt abschottet. Vielleicht ist es auch nur das Übliche: daß das Eis für den, der nicht damit geboren ist, nicht zu begreifen ist. Ich versuche es andersherum.
»Haben sie erzählt, wie sie ihn gefunden haben?«
»Es waren Grönländer. In vorgeschichtlicher Zeit. Er kam in ihren Sagen vor. Deshalb hatten sie Andreas Fine Licht mit. Damals lag der Stein vielleicht noch auf dem Eis.«
»Wenn ein Meteor in die Atmosphäre eintritt«, sage ich, »ungefähr hundertfünfzig Kilometer weit draußen, läuft erst eine Druckwelle durch ihn hindurch, als sei er in eine Betonmauer gekracht. Die äußere Schicht schmilzt ab. Ich habe auf dem Inlandeis solche schwarzen, herabgetropften Streifen gesehen. Aber damit verringert sich die Geschwindigkeit des Meteors und dadurch auch die Hitzeentwicklung. Wenn er runterkommt, ohne zerschellt zu sein, hat er typischerweise die mittlere Temperatur der Erde, um die fünf Grad. Er schmilzt also nicht durch. Aber er bleibt auch nicht liegen. Die Schwerkraft wird ihn ganz einfach runterdrücken. Man hat noch nie Meteoriten auch nur kleinerer Größe auf dem Eis gefunden. Und wird auch nie welche finden. Die Schwerkraft preßt sie nach unten. Sie werden eingekapselt und mit der Zeit ins Meer hinausgeführt. Und wenn sie wirklich in einer Spalte des Untergrunds hängenbleiben sollten, werden sie zermalmt. Ein Gletscher hat nichts Behutsames. Er ist eine Mischung aus einem gigantischen Hobel und einem Steinbrecher. Er baut keine verzauberten Höhlen um Objekte von geologischem Interesse. Er zerfeilt sie, zerraspelt sie, zermahlt sie zu Pulver und schiebt das Pulver in den Atlantik.«
»Dann müssen um ihn herum warme Quellen sein.«
»Auf Gela Alta gibt es keine Vulkantätigkeit.«
»Ich habe die F-Fotos gesehen. Er liegt in einem See aus Wasser.«
»Ja«, sage ich. »Ich habe die Bilder auch gesehen. Wenn das Ganze kein Trick ist, liegt er in Wasser. Ich hoffe inständig, es ist ein Trick.«
»Warum?«
Ich frage mich, ob er es wohl wird fassen können. Aber ich habe sowieso keine andere Möglichkeit, als es mit der Wahrheit zu versuchen. Mit dem, was ich für die Wahrheit halte.
»Ich kann es nicht mit Sicherheit wissen. Aber es könnte so aussehen, als käme die Wärme vom Stein. Als würde er Energie abgeben. Vielleicht in Form
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