Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Vom Netzwerk:
seine Windjacke. Ich trete zu ihm hin und schlage ihm den kurzen Zylinderlauf in den Mund. Er fällt nach hinten gegen den Schrank. Ich wage nicht mehr, mich ihm zu nähern. Ich gehe zur Tür hinaus. Sein Schlüssel steckt noch im Schloß. Ich schließe hinter mir ab.
    Der Flur ist leer. Doch hinter der Tür zur Messe bewegt sich etwas. Ich öffne sie einen Zentimeter. Urs deckt gerade den Tisch. Ich stelle mich innen an die Tür. Er setzt einen Brotkorb ab. Erst sieht er mich nicht, dann sieht er mich.
    Ich schraube den Deckel von einer Thermosflasche. Schenke in eine Tasse ein, tue Zucker hinein, verrühre ihn, trinke. Der Kaffee ist fast kochend, der gebrannte Geschmack der Bohnen verursacht mir zusammen mit der Süße Übelkeit.
    »Wie lange sollen wir hier liegen, Urs?«
    Er starrt mir ins Gesicht. Ich spüre meine Nase nicht. Nur eine diffuse Hitze.
    »Sie haben Arrest, Fräulein Smilla.«
    »Ich habe die Erlaubnis herumzugehen.«
    Er glaubt mir nicht. Er hofft, daß ich gehe. Sichere Verlierer kann niemand leiden.
    »Drei Tage. Morn sölle mer Verpflegig an Land bringe. Denn schaffe mer alli im Schnee.«
    Sie werden den Stein über die Schwellenrutsche ziehen. Das bedeutet, daß er sehr nahe an der Küste liegen muß.
    »Wer ist an Land?«
    »Tørk, Verlaine, dr neui Passagier. Mit Flasche.«
    Erst verstehe ich ihn nicht. Er zeichnet mit der Hand Sauerstoffflaschen in die Luft.
    Ich bin schon auf dem Weg nach draußen, als er hinter mir herkommt. Die Situation ist eine Wiederholung, so haben wir schon einmal gestanden.
    »Fräulein Smilla . . .«
    Er, der es nie gewagt hat, mir nahezukommen, packt insistierend meinen Arm.
    »Sie müand schlafa. Sie bruchend medizinische Behandlig . . .«
    Ich ziehe den Arm zurück. Es ist mir nicht gelungen, ihn zu erschrecken. Ich habe nur an sein Mitleid appelliert.
     
    Auf See schließt man Türen prinzipiell nur ab, wenn man einen Raum verläßt. Um im Falle eines Brandes die Rettungsarbeiten zu erleichtern. Lukas schläft mit offener Tür. Er schläft tief. Ich mache die Tür hinter mir zu und setze mich an sein Fußende. Er schlägt die Augen auf. Erst sind sie matt vom Schlaf, dann werden sie im Schock glasig.
    »Ich habe mich zwischenzeitlich selber entlassen«, sage ich.
    Er versucht an mich heranzukommen. Er ist schneller als erwartet, wenn man bedenkt, daß er auf dem Rücken liegt und gerade noch geschlafen hat. Ich zeige ihm den Revolver. Er setzt die Bewegung fort. Ich hebe den Lauf vor das Gesicht und entsichere.
    »Ich habe nichts zu verlieren«, sage ich.
    Er entspannt sich.
    »Gehen Sie zurück. Der Arrest ist Ihre Sicherheit.«
    »Ja«, sage ich. »Mit Maurice vor der Tür ist das wirklich sehr beruhigend. Ziehen Sie Ihren Mantel an. Wir gehen an Deck.«
    Er zögert. Dann greift er nach seinen Sachen.
    »Tørk hat recht. Sie sind krank.«
    Vielleicht hat er recht. Jedenfalls hat sich zwischen mich und den Rest der Welt eine Schicht aus Gefühllosigkeit geschoben. Eine Kruste, in der die Nerven abgestorben sind. Am Waschbecken wasche ich mir die Nase. Das ist ungeschickt, weil ich dabei auch noch die Waffe halten und Lukas im Auge behalten muß. Im Gesicht ist gar nicht so viel Blut, wie ich gemeint habe. Gesichtsverletzungen fühlen sich größer an, als sie sind.
    Er geht voran. Als wir an der Treppe zu den oberen Decks vorbeigehen, kommt Sonne herunter. Ich trete dicht hinter Lukas. Sonne bleibt stehen. Lukas winkt ab. Er zögert, dann setzen sich die Navigationsschule, sein Jahr bei der Marine und seine innere Disziplin durch. Er tritt zur Seite. Wir gehen auf das Deck hinaus. An die Reling. Ich stelle mich ein paar Meter weg. Das bedeutet, daß wir laut reden müssen, um einander zu hören. Aber es macht es schwerer für ihn, an mich heranzukommen.
    Nach so vielen Tagen auf hoher See hat die Insel für mich eine dunkle, schmerzliche Schönheit. Sie ist so schmal und so hoch, daß sie sich wie ein Turm aus dem gefrorenen Meer erhebt. Sie ist ganz von Eis bedeckt, nur vereinzelt ist die Klippe zu sehen. Von der schalenförmigen Inselspitze fließt es wie aus einem polaren, kalten Füllhorn über die Kante und an den steil abfallenden Seiten hinunter. Zur Kronos hin gleitet eine Zunge ins Meer, der Barrengletscher. Wenn wir die anderen Seiten sehen könnten, würden wir senkrechte, von Lawinen und Eisfall zerklüftete Felswände sehen.
    Der Wind kommt von der Insel, Nordwind, avangnaq . Er kristallisiert ein anderes Wort, und zuerst ist nur die Lautseite

Weitere Kostenlose Bücher