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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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läßt. Solange man am Leben ist, wird es von sich aus nach Überlebensmöglichkeiten suchen. Als hätte man eine andere Person bei sich, die naiver, aber auch ausdauernder ist als man selber.
    Ich gebe die Liste auf. Die Besatzung der Kronos läßt sich in diejenigen aufteilen, die ich bereits jetzt gegen mich habe, und die, die ich schließlich gegen mich haben werde. Den Mechaniker habe ich nicht mitgerechnet. Ich versuche, nicht an ihn zu denken.
    Als das Frühstück kommt, liege ich auf der Pritsche. Jemand tastet nach dem Lichtschalter, und ich bitte darum, kein Licht zu machen. Er stellt das Tablett an der Tür ab und geht. Es war Maurice. Im Dunkeln kann er die zerbrochene Scheibe nicht gesehen haben.
    Ich zwinge mich dazu, ein bißchen zu essen. Jemand setzt sich draußen vor die Tür. Ab und zu höre ich einen Stuhl gegen die Tür schrammen. Irgendwann werden der Hilfsmotor und die großen Generatoren angelassen. Zehn Minuten später löschen sie vom Achterdeck aus. Ich kann nicht sehen, was. Die Fenster des Sanitätsraums gehen nach backbord.
    Der Tag beginnt. Es wirkt, als brächte die Morgendämmerung kein Licht, sondern als sei sie eine selbständige Substanz, wie Rauchfetzen, die an den Fenstern vorbeitreiben.
    Von diesem Blickwinkel aus ist die Insel nicht zu sehen. Doch ich spüre das Eis. Die Kronos ist am Achtersteven vertäut. Die Eiskante ist vielleicht fünfundsiebzig Meter entfernt. Ich sehe, wo die eine Vertäuungstrosse zu einem Anker aus Eisschrauben führt, der zwischen aufgetürmten, festgefrorenen Eisschollen befestigt ist.
    Das Motorboot wird gelandet und geleert. Es ist nicht hell genug, um die Menschen identifizieren oder das Gepäck bestimmen zu können. Irgendwann wirkt das an der Eiskante vertäute Boot wie aufgegeben.
    Ich habe das Gefühl, den Weg zu Ende gegangen zu sein. Weiterzugehen – das kann man von keinem Menschen verlangen. Zwischen den Stuhlpolstern, die ich als Kopfkissen benutzt habe, liegt Jakkelsens Schlüssel. Dort liegt auch eine blaue Plastikschachtel. Und ein in einen Putzlappen gewickeltes Stück Metall. Ich hatte erwartet, daß er meinen Diebstahl sofort entdecken würde, aber er ist nicht gekommen. Es ist ein Trommelrevolver. Ballester Molina Inunangitsoq. Mit argentinischer Lizenz in Nuuk hergestellt. Zwischen Zweck und Design besteht ein Mißverhältnis. Es hat etwas Überraschendes, daß Tücke eine so einfache Form haben kann.
    Gewehre kann man damit entschuldigen, daß man sie zur Jagd benutzt. In bestimmten Schneearten kann ein langläufiger, schwerkalibriger Revolver zur Selbstverteidigung notwendig sein. Weil Moschusochsen und Eisbären um den Jäger herumgehen und von hinten angreifen können. Und zwar so schnell, daß keine Zeit bleibt, das Gewehr herumzureißen.
    Für diese stumpfnasige Waffe aber gibt es keine Entschuldigung.
    Die Patronen haben einen flachen Bleimantel. Die Schachtel ist voll. Ich fülle die Trommel. Sechs haben Platz. Ich drücke die Trommel zurück.
    Ich stecke einen Finger in den Hals und fange röchelnd an zu husten. Ich trete in die Glasscherben, die noch im Rahmen stecken. Sie fallen klirrend zu Boden. Die Tür schwingt auf, Maurice kommt herein. Ich stütze mich an der Pritsche ab und halte den Revolver mit beiden Händen.
    »Auf die Knie«, sage ich.
    Er geht auf mich zu. Ich richte den Lauf auf seine Beine und drücke ab. Es passiert nichts. Ich habe vergessen, den Revolver zu entsichern. Er schlägt mit dem gesunden linken Arm nach vorn und hoch, der Schlag trifft mich an der Brust und wirft mich gegen den Schrank. Die Scherben der zersplitterten Scheibe schneiden mir mit dem charakteristischen kalten Schmerz sehr scharfer Schnittflächen in den Rücken. Ich falle auf die Knie, er tritt mir ins Gesicht, der Fuß bricht meine Nase und nimmt mir einen Augenblick lang das Bewußtsein. Als es zurückkehrt, ist sein einer Fuß neben meinem Kopf, er muß direkt über mir stehen. Aus der Werkzeugtasche meiner Arbeitshose hole ich die mit Pflaster umwickelten Skalpelle. Ich schiebe mich etwas vor und schneide hinter dem Knöchel ein. Es gibt einen kleinen schnalzenden Knall, als seine Achillessehne reißt. Als ich das Messer wegnehme, sehe ich an der Schnittfläche den gelblichen Schein des Knochens. Ich rolle von ihm weg. Er versucht nach mir zu treten, fällt aber nach vorn. Erst als ich wieder stehe, merke ich, daß ich den Revolver immer noch in der Hand habe. Er kniet auf dem einen Knie. Ohne Eile steckt er die Hand unter

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