Peter Hoeg
Absichten erst hier bewußt. Die Möglichkeit, eine Bedrohung auszuschalten. Die Möglichkeit, zu vermeiden, daß der Junge jemals erzählt, was er in einer Gletscherhöhle irgendwo in der Davisstraße gesehen hat.«
»Sie raten!«
Seine Stimme ist ein Flüstern.
»Der Mann geht auf den Jungen zu. Sieht, wie er an der Kante entlangläuft, um einen Weg nach unten zu finden. Kinder haben keinen Überblick, der Junge weiß vermutlich nicht einmal richtig, wo er sich befindet, sieht nur die nächsten paar Meter vor sich. Am Schneerand bleibt der Mann Stehen. Er will keine Spuren hinterlassen. Ihm ist es lieber, daß das nicht notwendig wird.«
Die Verbindung ist weg. Der Mechaniker dreht an den Knöpfen. Sie kommt zurück.
»Der Mann wartet. Irgendwie ist in diesem Warten ein großes Selbstvertrauen. Als ob er wüßte, daß allein seine Anwesenheit ausreicht. Seine Silhouette am Himmel. Wie in Singapur. Hat das dort gereicht, Ravn? Oder hat er sie gestoßen, weil sie älter war und gefaßter als der Junge, weil er ganz an sie herankommen konnte, weil da kein Schnee war, der seine Spuren festhalten konnte?«
Der Laut ist so deutlich, daß ich glaube, er kommt vom Mechaniker. Doch der schweigt.
Dann noch einmal, aber zerquält, diesmal von Ravn.
Ich spreche leise zu ihm.
»Sehen Sie sich das Kind an, Ravn, das Kind neben Ihnen, es ist das Kind auf dem Dach, Tørk ist hinter ihm her, eine Silhouette, er könnte es aufhalten, tut es aber nicht, er treibt es weiter, wie damals die Frau auf dem Dach. Wer war sie, und was hat er mit ihr gemacht?«
Er verschwindet und kommt wieder zurück, weit weg.
»Ich muß es wissen! Sie hieß Ravn!«
Der Mechaniker legt mir eine Hand auf den Mund. Die Handfläche ist kalt wie Eis. Ich muß geschrien haben.
». . . war . . .« Seine Stimme verschwindet.
Ich packe den Apparat und schüttele ihn. Der Mechaniker zieht mich weg. In selben Moment kommt Ravns Stimme zurück, deutlich, klar, ohne jedes Gefühl.
»Meine Tochter. Er hat sie gestoßen. Sind Sie jetzt zufrieden, Fräulein Smilla?«
»Das Foto«, sage ich, »hat sie die Aufnahme von Tørk gemacht? War sie bei der Polizei?«
Er sagt etwas, doch da wird seine Stimme in einen Lärmtunnel gezogen und verschwindet. Die Verbindung ist abgebrochen.
Der Mechaniker macht die Deckenbeleuchtung aus. Im Schein der Instrumentenschalttafeln ist sein Gesicht weiß und straff. Langsam nimmt er den Kopfhörer ab und hängt ihn an seinen Platz. Ich schwitze, als wäre ich gelaufen.
»Eine Zeugenaussage von einem Kind hätte vor Gericht wohl kaum Gültigkeit?«
»Vor den Geschworenen wäre sie belastend gewesen«, sage ich.
Er führt den Gedanken nicht weiter, braucht es auch nicht. Wir denken dasselbe. Jesaja hatte manchmal etwas in seinem Blick, ein Wissen, das älter war als sein Alter, älter als das Alter von irgend jemandem, eine tiefe Einsicht in die Erwachsenenwelt. Tørk ist diesem Blick begegnet. Es gibt andere Anklagen als die, die ein Gericht erheben kann.
»Was ist mit der Tür?«
Er biegt den Stahlrahmen vorsichtig zurück.
Er ist mit mir zur Außentreppe zurückgegangen. Im Krankenzimmer bleibt er einen Augenblick an der Tür stehen.
Ich wende mich von ihm ab. Körperlicher Schmerz ist im Vergleich zum Schmerz in der Seele papierdünn und nebensächlich.
Er spreizt die Finger und sieht seine Hände an.
»Wenn wir fertig sind«, sagt er, »bringe ich ihn um.«
Niemand könnte mich dazu bringen, eine Nacht – und sei es eine so kurze und trostlose wie die, die vor mir liegt – auf einer Krankenpritsche zu verbringen. Ich nehme das Laken ab, die Kissen von den Stühlen und lege mich direkt an die Tür. Wenn jemand herein will, muß er mich erst zur Seite schieben.
Es will niemand herein. Ich schlafe ein paar Stunden wie bewußtlos, danach knirscht der Rumpf zitternd gegen etwas, und das Deck ist voller Füße. Ich glaube auch, daß ein Anker gerasselt hat, vielleicht hat die Kronos an der Eiskante angelegt. Ich bin zu müde, um aufzustehen. Irgendwo in der Nähe, draußen im Dunkeln, liegt Gela Alta.
2
Es gibt einen Schlaf, der schlimmer ist als Schlaflosigkeit. Von den letzten beiden Stunden erwache ich angespannter und körperlich zerschlagener, als wenn ich mich wach gehalten hätte. Draußen ist es dunkel.
Im Kopf mache ich mir eine Liste. Wen, frage ich mich, würde ich auf meine Seite ziehen können. Das ist kein Ausdruck von Hoffnung. Eher ist es wohl so, daß sich das Bewußtsein nicht aufhalten
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