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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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ihn?«
    Das habe ich schon öfter gesehen, das Feld, in dem Eifersucht und Wahnsinn zusammenfließen und die Wirklichkeit verwischen.
    »Nein«, sage ich.
    Ich weiche zurück und stoße an etwas, das nicht nachgibt. Hinter mir steht Urs. Er hat noch seine Schürze an. Darüber einen dicken Pelz. In der Hand ein Brot. Es muß gerade aus dem Ofen gekommen sein, in der Kälte ist es von einer dichten Dampfwolke umgeben. Die Frau ignoriert ihn. Als sie nach mir greifen will, legt er das Brot an ihren Hals. Sie fällt auf das Gummiboot und bleibt liegen. Die Brandwunde geht auf wie ein Film, den man entwickelt, mit dem genauen Abdruck der Brotrillen.
    »Was soll ich tun?« fragt er.
    Ich reiche ihm den Revolver des Mechanikers.
    »Kann ich ein bißchen Zeit haben?« frage ich.
    Nachdenklich sieht er Hansen an.
    »Kein Problem«, sagt er.
     
    Die Schwimmbrücke ist noch ausgelegt. Sobald ich das Eis sehe, weiß ich, daß ich zu früh dran bin. Es ist noch zu transparent, um zu tragen. Da steht der Stuhl. Ich setze mich und warte. Ich lege die Füße auf den Kabelkasten. Hier hat einmal Jakkelsen gesessen. Und Hansen. Auf einem Schiff kreuzt man ununterbrochen seine eigenen Spuren. Wie im Leben.
    Es schneit. Große Flocken, qanik , wie der Schnee über Jesajas Grab. Noch ist das Eis so warm, daß die Flocken darin einschmelzen. Wenn ich jetzt lange darauf starre, sieht es aus, als fielen sie nicht, sondern wüchsen aus dem Meer und türmten sich zum Himmel empor, um sich auf das Dach des Felsturmes über mir zu legen. Erst als sechseckige, neugebildete Schneeflocken. Dann als achtundvierzig Stunden alte Flocken mit verfließenden Konturen. Am zehnten Tag wird aus jeder Flocke ein körniges Kristall geworden sein. Nach zwei Monaten ist sie kompakt. Nach zwei Jahren befindet sie sich im Übergangszustand zwischen Schnee und Firn. Nach drei Jahren ist sie névé . Nach vier Jahren ist sie zu einem großen, blockartigen Gletscherkristall geworden.
    Mehr als drei Jahre wird sie auf Gela Alta nicht existieren können. Danach wird der Gletscher sie ins Meer hinausstoßen. Von wo sie eines Tages aufbrechen und zur Schmelze, Auflösung und Aufnahme ins Meer schwimmen wird. Aus dem sie sich eines Tages wieder als neuer Schnee erheben wird.
    Das Eis ist jetzt gräulich. Ich trete darauf. Es ist nicht gut. Nichts ist mehr richtig gut.
    Solange wie möglich halte ich mich im Windschatten der Reling der Kronos. Irgendwann wird das Eis so dünn, daß ich vom Kurs abweichen muß. Wahrscheinlich können sie mich sowieso nicht sehen. Es dunkelt. Das Licht treibt fort, ohne jemals dagewesen zu sein. Die letzten zehn Meter muß ich auf dem Bauch robben. Ich lege die Decke auf das Eis und schiebe mich vorwärts.
    Das Motorboot ist an der Eiskante vertäut. Es ist ausgeräumt worden. Bis zum Strand sind es dreihundert Meter. Wo ein Eisfluß mehrmals getaut und wieder gefroren ist, hat sich eine Treppe gebildet.
    Der Geruch nach Erde wird durchdringend. Nach so langer Zeit auf dem Meer duftet die Insel wie ein Garten. Ich schabe die Schneeschicht weg. Es sind ungefähr vierzig Zentimeter. Darunter die Reste von Moosen, von verwitterter arktischer Weide.
    Als sie ankamen, hat eine dünne Schicht Neuschnee gelegen. Ihre Spuren sind sehr deutlich: Sie haben zwei Zugschlitten mitgehabt. Der Mechaniker hat den einen Schlitten gezogen, Tørk und Verlaine den anderen.
    Sie sind den Abhang hinaufgegangen, um die steilen Öffnungen zu vermeiden, wo sich das Eis in das Meer hinausschiebt. Hier ist der lose Schnee einen halben Meter tief. Abwechselnd haben sie die Spur getrampelt.
    Ich ziehe Kamiken an. Ich schaue auf den Schnee und konzentriere mich auf das Gehen. Es ist, als sei ich wieder Kind. Wir müssen irgendwohin, ich erinnere mich nicht wohin, die Reise ist lang gewesen, vielleicht mehrere sinik , ich fange an zu stolpern, ich bin nicht mehr identisch mit meinen Füßen, sie gehen von selber, mühsam, als sei jeder Schritt eine zu lösende Aufgabe. Irgendwo im System wächst der Drang aufzugeben, sich hinzusetzen und zu schlafen.
    Da ist meine Mutter hinter mir. Sie weiß es, sie hat es eine Zeitlang gewußt. Sie spricht, sie, die sonst so wortkarg ist, sie gibt mir eine Kopfnuß, halb Gewalt, halb Liebkosung, was ist das für ein Wind, Smilla? Das ist kanangnaq . Das stimmt nicht, Smilla, du schläfst. Nein, tue ich nicht, er ist nämlich schwach und feucht, das Eis muß gerade erst gebrochen sein. Rede anständig mit deiner Mutter, Smilla. Die

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