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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Frau. Er ist fertig angezogen, verbissen und rotäugig morgenfrisch.
    Er hebt nicht mal die Augenbrauen, als er mich sieht. Er senkt den Kopf, und wir pflügen uns durch die Zurufe und ein paar Räume, die aussehen, als seien die Völkerwanderung und die wilden Horden über sie hinweggefegt und auf dem Rückweg noch mal vorbeigekommen, dann durch eine Küche, in der man Brote für eine ganze Kaserne geschmiert hat, und durch eine Tür. Als sie zugemacht wird, ist es ganz still, trocken, sehr warm und neonfarbig.
    Wir stehen in einem Treibhaus, das als eine Art Wintergarten an das Haus angebaut ist. Abgesehen von ein paar schmalen Pfaden, einer kleinen Plattform mit weiß gestrichenen Eisenmöbeln und einem Tisch gibt es hier nur Beete und Kakteentöpfe. Kakteen in allen Größen, von einem Millimeter bis zu zwei Metern. In allen Schattierungen der Kratzbürstigkeit. Beleuchtet von violetten und blauen Floralampen, die das Wachstum fördern.
    »Aus Dallas«, sagt er. »Verdammt gutes Plätzchen, um eine Sammlung anzufangen. Sonst weiß ich allerdings nicht, ob ich es empfehlen kann, nee, wirklich nicht. An einem Samstagabend konnten wir bis zu fünfzig Tötungsdelikte haben. Oft mußte man unten neben der Unfallstation arbeiten. Die war so eingerichtet, daß wir dort gleich obduzieren konnten. Das war praktisch. Man lernte was über Schußwunden und Messerstiche. Meine Frau sagte, ich würde die Kinder nie sehen. Hat ja wirklich auch gestimmt, verdammt noch mal.«
    Beim Sprechen schaut er mich unverwandt an.
    »Sie kommen verteufelt früh. Nicht, daß es uns was ausmacht, wir sind sowieso auf. Meine Frau hat die Gören in den Kindergarten von Allerød gesteckt. Damit sie ein bißchen in den Wald rauskommen. Sie haben den kleinen Jungen gekannt?«
    »Ich war eine Freundin der Familie. Besonders seine.«
    Wir setzen uns einander gegenüber.
    »Was wollen Sie?«
    »Sie haben mir Ihre Karte gegeben.«
    Das überhört er ganz einfach. Ich spüre, daß er ein Mensch ist, der zuviel gesehen hat, um sich noch allzuviel mit Umschweifen aufzuhalten. Wenn er etwas hergeben soll, will er Aufrichtigkeit.
    Ich erzähle ihm also von Jesajas Höhenangst. Von den Spuren auf dem Dach. Von meinem Besuch bei Professor Loyen. Von Assessor Ravn.
    Er zündet sich eine Zigarre an und betrachtet seine Kakteen. Vielleicht hat er nicht verstanden, was ich ihm erzählt habe. Ich bin nicht sicher, daß ich selber es verstanden habe.
    »Wir haben das einzige richtige Institut«, erzählt er. »In den anderen sitzen vier Leute und knapsen und kriegen kein Geld für Pipetten und für die weißen Mäuse, denen sie ihre kleinen Zellproben einpflanzen wollen. Wir haben ein ganzes Haus. Wir haben die Pathologen, die Chemiker und Gerichtsgenetiker. Und den ganzen Laden im Keller. Die Lehrverpflichtungen. Wir haben 200 Mitarbeiter, verdammt noch mal. Wir kriegen jährlich 3.000 Akten auf den Tisch. Wenn man in Odense sitzt, hat man vielleicht vierzig Tötungsdelikte gesehen. Hier in Kopenhagen habe ich 1.500 gehabt. Und genauso viele in Deutschland und in den USA. Wenn es in Dänemark drei Leute gibt, die sich Gerichtsmediziner schimpfen dürfen, dann ist das viel. Und zwei, zwei davon, das sind Loyen und ich.«
    Neben seinem Stuhl steht ein Kaktus, der eine Form wie ein blühender Baumstumpf hat. Aus dem grünen, langsamen, holzigen, dornigen Gewächs wuchert eine Explosion in Purpur und Orange.
    »Am Morgen nach dem Tag, an dem man den Jungen eingeliefert hat, hatten wir viel zu tun. Alkohol am Steuer und Weihnachtsfeiern. Jeden Nachmittag um vier steht uns die Polizei auf den Zehen wegen des Berichts, verdammt noch mal. Um acht fange ich also mit dem Jungen an. Sie sind doch nicht etwa zimperlich, oder? Wir haben schließlich eine Routine. Es ist eine äußerliche Untersuchung. Wir suchen nach Zellgewebe unter den Nägeln, nach Sperma im Dickdarm, und dann machen wir auf und gucken uns die inneren Organe an.«
    »Ist die Polizei dabei?«
    »Nur in Sonderfallen, wenn zum Beispiel schwerer Mordverdacht besteht. Nicht bei so etwas. Das hier war Standard. Er hatte Regenschutzhosen an. Die halte ich hoch und denke, mit so was macht man normalerweise nicht gerade Weitsprung. Ich habe einen kleinen Trick. Wie man sie in allen Disziplinen entwickelt. Ich halte eine brennende elektrische Birne in die Hosenbeine. Helly Hansen. Solide Sache. Trage ich selber, wenn ich im Garten arbeite. Aber am Schenkel ist eine Perforierung. Ich schaue an dem Jungen nach. Reine

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