Peter Hoeg
aufgesogen und legt es jetzt über unser Gespräch.
»Die Putzfrau?«
»Nein«, sage ich. »Auch nicht die Fußpflegerin. Ich habe ein paar Fragen über die Kryolithgesellschaft.«
Elsa Lübing gönnt sich eine Pause. Das kann man sich erlauben, wenn man am richtigen Ende der Gegensprechanlage steht. Dort, wo es warm ist und der Türsummer sitzt.
»Das kommt mir wirklich ungelegen. Sie müssen schon schreiben oder ein andermal wiederkommen.« Sie hat aufgehängt.
Ich trete einen Schritt zurück und schaue hoch. Das Haus steht für sich allein, im Vogelviertel von Frederiksberg, am Ende des Hejrevej. Es ist hoch. Elsa Lübing wohnt im sechsten Stock. Der Balkon im fünften hat gußeiserne Verzierungen, die von Blumenkästen verdeckt werden. Aus dem Namensschild geht hervor, daß es sich bei den Blumenliebhabern um das Ehepaar Schou handelt. Ich drücke kurz und autoritativ auf die Klingel.
»Ja?« Die Stimme ist mindestens achtzig.
»Der Bote vom Blumenhändler. Ich habe einen Strauß für Frau Lübing abzugeben, aber sie ist nicht zu Hause. Würden Sie mich bitte reinlassen?«
»Tut mir leid. Wir haben die strenge Auflage, für die anderen Wohnungen niemanden hereinzulassen.«
Mich bezaubern Leute, die noch mit achtzig strenge Auflagen erfüllen.
»Frau Schou«, sage ich. »Es sind Orchideen. Frisch aus Madeira eingeflogen. Die verschmachten hier unten in der Kälte.«
»Das ist ja schrecklich!«
»Gräßlich«, sage ich. »Aber ein kleiner Druck auf Ihr kleines Knöpfchen könnte sie in die Wärme bringen, wo sie hingehören.«
Sie drückt.
Der Fahrstuhl ist einer von der Sorte, bei der man Lust kriegt, einfach so sieben-, achtmal hoch und runter zu fahren, nur um das kleine eingebaute Plüschsofa, das polierte Palisanderholz, das goldene Gitter und die sandgestrahlten Putten der Glasscheiben zu genießen, hinter denen man das Kabel und das Gegengewicht in die Tiefe sinken sieht.
Die Tür der Lübing ist geschlossen. Unten hat Frau Schou ihre Tür aufgemacht, um zu hören, ob das mit den Orchideen vielleicht nur ein Vorwand für eine schnelle Weihnachtsvergewaltigung gewesen ist.
In meiner Tasche habe ich zwischen Geldscheinen und Mahnzetteln der Universitätsbibliothek ein Papier. Das lasse ich durch den Briefschlitz fallen. Danach warten Frau Schou und ich.
Die Tür hat einen Messingbriefschlitz, ein handgemaltes Namensschild und eine Füllung in Weiß und Grau.
Sie geht auf. Im Türrahmen steht Elsa Lübing.
Sie läßt sich viel Zeit, mich anzuschauen.
»Ja«, sagt sie schließlich, »zudringlich sind Sie ja.«
Sie tritt zur Seite. Ich gehe an ihr vorbei. In die Wohnung. Elsa Lübing hat die Farben des Hauses. Poliertes Silber und frische Sahne. Sie ist sehr groß, über einen Meter achtzig, und sie hat ein langes, einfaches weißes Kleid an. Ihre Haare trägt sie aufgesteckt, ein paar lose Löckchen ringeln sich wie eine Kaskade aus blankem Metall an ihren Wangen entlang. Kein Make-up, kein Parfüm und kein Schmuck, abgesehen von einem Silberkreuz, das direkt unter ihrem Hals hängt. Ein Engel. Einer von der Sorte, der man es beruhigt überlassen kann, irgend etwas mit einem Flammenschwert zu bewachen.
Sie schaut sich den Brief an, den ich ihr hineingeworfen habe. Es ist Julians Rentenbescheid.
»An diesen Brief erinnere ich mich sehr gut«, sagt sie.
An der Wand hängt ein Gemälde. Vom Himmel fließt ein Strom langbärtiger Greise, kleiner, fetter Kinder, von Obst, Füllhörnern, Herzen, Ankern, Königskronen und Kanonen auf die Erde herab, dazu ein Text, den man versteht, wenn man Latein kann. Dieses Bild ist der einzige Luxus. Ansonsten hat der Raum nackte weiße Wände, einen Parkettboden mit einem Wollteppich, einen Eichentisch, einen niedrigeren runden Tisch, ein paar hochlehnige Sessel, ein Sofa, ein hohes Bücherregal und ein Kruzifix.
Mehr ist nicht notwendig. Denn hier gibt es etwas anderes. Hier hat man eine Aussicht, die man sonst nur bekommt, wenn man Pilot ist, und nur aushalten kann, wenn man schwindelfrei ist. Die Wohnung scheint im wesentlichen aus einem einzigen, sehr großen und hellen Raum zu bestehen. Zum Balkon hin hat der Raum in seiner ganzen Breite eine Glaswand. Dahinter sieht man ganz Frederiksberg, Bellahøj und, weit weg, die Hochhäuser von Høje Gladsaxe. Durch die Scheibe fällt das Licht des Wintermorgens so hell und weiß, als seien wir draußen. Zur anderen Seite hat der Raum ein großes Fenster. Dahinter sieht man über endlose Reihen von Dächern
Weitere Kostenlose Bücher