Peter Hoeg
Ravn, ist der klein und dünn?«
»Wie eine Hopfenstange, Schätzchen.«
»Trägt er große Mäntel?«
»Wie Wohnzelte.«
Ich höre, wie ihr Atem schneller wird. Ich weiß, daß sie blanke Augen hat.
»Das ist der von der Polizei für Wirtschaftskriminalität«, sagt sie.
Jetzt ist sie glücklich. Auf ihre eigene Art. Ich habe ihr das Weihnachtsmärchen des Jahres beschert, gerade passend zum Kaffee und Kuchen mit den Busenfreundinnen morgen früh.
»Sie haben mir wirklich den Tag gerettet«, sage ich. »Falls Sie selbst mal Massage haben möchten . . .«
Sie legt auf.
Ich nehme meinen Tee mit ans Fenster. Dänemark ist ein reizendes Land. Und die Polizei ist ganz besonders reizend. Und voller Überraschungen. Sie begleitet die Leibgarde zum Schloß Amalienborg. Sie geleitet verirrte Entenküken über die Straße. Und wenn ein kleiner Junge vom Dach fällt, kommt zuerst die Schutzpolizei. Und danach die Kriminalpolizei. Und schließlich läßt sich dann auch noch der Staatsanwalt für besondere Wirtschaftsvergehen vertreten. Das ist beruhigend.
Ich ziehe den Telefonstecker heraus. Für heute habe ich genug telefoniert. Ich habe den Mechaniker irgend etwas mit einem Bananenstecker machen lassen, so daß ich auch die Türklingel abstellen kann. Dann setze ich mich aufs Sofa. Zuerst kommen die Bilder dieses Tages. Die lasse ich gehen. Danach kommen die Erinnerungen aus der Zeit, als ich klein war, mal leicht depressiv, mal schwach lustig, ich lasse sie den anderen hinterherziehen. Dann kommt die Ruhe. In der lege ich eine Platte auf. Dann sitze ich da und weine. Ich weine nicht über etwas oder jemanden. Mein Leben habe ich mir in gewisser Weise selber eingebrockt, und ich will es gar nicht anders haben. Ich weine, weil es im All etwas so Schönes gibt wie Kremer, wenn er Brahms' Violinkonzert spielt.
9
Ein wissenschaftstheoretischer Standpunkt besagt, daß man genaugenommen nur die Existenz des selbst Erfahrenen als sicher betrachten kann. Folglich kann es nur sehr wenige Leute geben, die sicher sind, daß der Godthåbsvej um fünf Uhr morgens existiert. Jedenfalls sind die Fenster dunkel und leer, die Straßen sind leer, und die Linie 2 ist, bis auf den Fahrer und mich, ebenfalls leer.
Fünf Uhr morgens, das hat etwas Besonderes. Als ob der Schlaf dann seinen Tiefpunkt erreichen würde. Die Parabel der REM-Zyklen kehrt sich um und hievt die Schlafenden zu der Erkenntnis empor, daß es so nicht weitergeht. Die Menschen sind zu diesem Zeitpunkt ungeschützt wie Säuglinge. Da jagen die großen Raubtiere, und die Polizei treibt bei säumigen Zahlern die Knöllchen ein. Und ich nehme die Linie 2 nach Brønshøj, zum Kabbelejevej am Rande von Utterslev Mose, dem sumpfigen Erholungsgebiet um dem Gerichtsmediziner Lagermann einen Besuch abzustatten. Lagermann, wie die dänische Lakritze.
Er hat meine Stimme am Telefon erkannt, bevor ich mich habe vorstellen können, und stößt die Uhrzeit hervor, »halb sieben«, sagt er, »schaffen Sie das?«
Ich komme also kurz vor sechs. Der Mensch hält sein Leben durch die Zeit zusammen. Ändert man sie nur ein klein wenig, passiert fast immer etwas Spannendes.
Der Kabbelejevej ist dunkel. Die Häuser sind dunkel. Das Moor am Ende ist dunkel. Es ist eiskalt, der Bürgersteig ist hellgrau vom Reif, die geparkten Autos haben einen glitzernden weißen Pelz übergezogen. Das schlaftrunkene Gesicht des Gerichtsmediziners dürfte interessant werden.
Ein Haus ist erleuchtet. Nicht einfach nur erleuchtet, sondern illuminiert. Hinter den Fenstern bewegen sich Gestalten, als sei hier schon seit gestern abend Hofball, der noch nicht zu Ende ist. Ich klingele. Smilla, die gute Fee, der letzte Gast vor dem Morgengrauen.
Fünf Personen machen die Tür auf, und zwar auf einmal, und danach verkeilen sie sich in der Türöffnung. Fünf Kinder in der Größenordnung ganz klein bis mittel. Drinnen sind noch mehr. Sie sind für einen Raid angezogen, mit Skistiefeln und Tornister, damit sie die Hände frei haben, um jemandem eine schmieren zu können. Ihre Haut ist milchweiß, sie haben Sommersprossen und kupferrote Haare unter ihren Fußballmützen mit den Wackelohren und strahlen eine Aura von hyperaktivem Vandalismus aus.
Mitten zwischen ihnen steht eine Frau mit der Haut- und Haarfarbe der Kinder, doch von der Größe, der Schulter- und Rückenbreite her eignet sie sich für Rugby. Hinter ihr kommt der Gerichtsmediziner zum Vorschein.
Er ist einen halben Meter kleiner als seine
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