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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Routine. Da sehe ich dann ein Loch. Das hätte mir schon bei der Oberflächenuntersuchung auffallen sollen, das sage ich Ihnen geradeheraus, aber zum Teufel, wir sind schließlich alle nur Menschen. Aber jetzt runzele ich doch die Brauen. Es hat nämlich keine Blutung gegeben, und das Gewebe hat sich nicht zusammengezogen. Wissen Sie, was das heißt?«
    »Nein«, sage ich.
    »Das heißt, was immer auch passiert ist, es ist passiert, nachdem sein Herz zu schlagen aufgehört hat. Jetzt schaue ich mir also den Regenschutz genauer an. Um das Loch ist ein kleiner Fleck, und irgendwie dämmert mir was. Ich hole eine Biopsienadel. Eine Art Kanüle, aber dick, die man an einen Griff montiert und ins Gewebe jagt, um eine Probe zu entnehmen. Wie Geologen Bohrkerne entnehmen. Werden vor allem drüben im August-Krogh-Institut von den Sportphysiologen massig benutzt. Sie paßt, verdammt noch mal. Der Kreis an dem Regenschutz könnte entstanden sein, weil jemand es eilig hatte und sie mit einem ordentlichen Ruck reingejagt hat.«
    Er lehnt sich zu mir herüber.
    »Ich fresse einen Besen, wenn da nicht jemand eine Muskelbiopsie an ihm vorgenommen hat.«
    »Der Notarzt?«
    »Habe ich auch gedacht. Das wäre zwar verdammt unerklärlich, aber wer sonst? Ich rufe an und erkundige mich. Ich spreche mit dem Fahrer. Und mit dem Arzt. Und mit dem Wachhabenden bei uns, der bei der Aufnahme dabei war. Die schwören bei ihrer Seligkeit, daß sie nichts Derartiges gemacht haben.«
    »Weshalb hat Loyen mir das nicht erzählt?«
    Einen Augenblick lang ist er drauf und dran, es mir zu sagen. Dann ist die Vertrautheit zwischen uns plötzlich unterbrochen.
    »Das muß wirklich ein verdammter Zufall sein.«
    Er macht die Floralampen aus. Wir sind auf allen vier Seiten von Nacht umgeben gewesen. Jetzt wird spürbar, daß trotz allem eine Art Tageslicht anbrechen wird. Das Haus ist jetzt still. Es japst lautlos, um Luft für das nächste Armageddon zu holen.
    Ich mache auf den schmalen Pfaden eine kurze Runde. Kakteen haben etwas Trotziges an sich. Die Sonne will sie unten halten, und ebenso der Wüstenwind, die Trockenheit und der Nachtfrost. Trotzdem drängeln sie nach oben. Sie sträuben sich, verschanzen sich hinter einer dicken Schale. Und geben keinen Millimeter nach. Ich hege Sympathie für sie.
    Lagermann erinnert an seine Pflanzen. Vielleicht sammelt er ja deswegen Kakteen. Ohne seine Lebensgeschichte zu kennen, sehe ich, daß er sich wohl durch einige Kubikmeter Schotter hat drücken müssen, um ans Licht zu kommen.
    Wir stehen vor einem Beet mit grünen Seeigeln, die aussehen, als hätten sie in einem Sturm aus Baumwollwatte gestanden. » Pilocereus senilis «, sagt er.
    Daneben steht eine Reihe von Töpfen mit kleineren grünen und violetten Gewächsen.
    »Mescalin. Selbst die Großen – sagen wir der Botanische Garten von Mexico City oder das Cesar-Manrique-Kakteenmuseum auf Lanzarote – haben nicht mehr. Eine kleine Scheibe, und man ist weit, weit weg. Nicht gerade empfehlenswert. Ich bin ein Vernunftsmensch. Rationalist. Wir untersuchen das Gehirn. Schneiden eine Scheibe heraus. Hinterher legt unser Mitarbeiter den Knochen wieder an seinen Platz und zieht die Kopfhaut drüber. Nichts zu sehen. Ich habe Tausende von Gehirnen gesehen. Ist nichts Mystisches dran. Das Ganze ist wirklich bloß Chemie, verdammt noch mal. Wenn man nur genug darüber weiß. Was glauben Sie, warum ist er auf dem Dach herumgelaufen?«
    Zum erstenmal habe ich Lust, eine ehrliche Antwort zu geben.
    »Ich glaube, daß jemand hinter ihm her war.«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Sieht einem Kind nicht ähnlich, so weit zu flüchten. Meine setzen sich hin und heulen. Oder schnappen ein.«
    Der Mechaniker hat einmal für Jesaja ein Fahrrad überholt. Jesaja hatte in Grönland nicht Fahrrad fahren gelernt. Als er es konnte, zog er los. Der Mechaniker fand ihn zehn Kilometer weiter auf dem Gammel-Køge-Landevej, mit Stützrädern und mit Butterbroten auf dem Gepäckträger. Auf dem Heimweg nach Grönland. Er hatte die Richtung genommen, in die Juliane irgendwann mal im Delirium zum Krankenhaus von Hvidovre gebracht worden war.
    Von meinem siebten Lebensjahr an, als ich zum erstenmal nach Dänemark kam, bin ich, bis ich dreizehn war und aufgab, öfter abgehauen, als ich mich erinnern kann. Zweimal kam ich bis Grönland, einmal weiter bis Thule. Man muß sich nur an eine Familie anhängen und aussehen, als säße die Mutti im Flugzeug fünf Sitze weiter vorn, oder sich ein

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