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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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»für eine Frau nicht schwierig, in den fünfziger Jahren in einem großen Unternehmen für die Buchhaltung verantwortlich zu sein?«
    »Der Herr hat mir seine Gnade erwiesen.«
    Ich denke mir, daß der Herr in Elsa Lübing ein schlagkräftiges Instrument zur Durchsetzung seiner Gnade gehabt hat.
    »Was läßt Sie annehmen, daß der Junge gejagt worden ist?«
    »Auf dem Dach, von dem er heruntergefallen ist, lag Schnee. Ich habe die Spuren gesehen. Ich habe ein Gespür für Schnee.«
    Sie sieht müde vor sich hin. Plötzlich ist ihre Gebrechlichkeit sichtbar.
    »Der Schnee ist ein Bild für die Unbeständigkeit«, sagt sie. »Wie im Buch Hiob.«
    Ich habe mein Cape angezogen. Ich bin keine Bibelkennerin. Doch am Fliegenfänger des Gehirns bleiben zuweilen sonderbare Bruchstücke der Kindergelehrsamkeit kleben.
    »Ja«, sage ich. »Und für das Licht der Wahrheit. Wie in der Offenbarung. ›Sein Haupt aber und sein Haar waren weiß wie der Schnee.‹«
    Sie sieht zerquält aus, als sie die Tür hinter mir schließt. Smilla Jaspersen. Der liebe Gast. Die Lichtspenderin. Wenn sie abzieht, herrschen blauer Himmel und blendende Laune.
    Als ich auf den Hejrevej hinaustrete, knackt es in der Gegensprechanlage.
    »Wären Sie so nett, noch mal heraufzukommen?«
    Ihre Stimme ist heiser. Aber das liegt an dem Unterwassertelefon.
    Ich nehme also noch einmal den Fahrstuhl. Und sie empfängt mich noch einmal an der Tür. Doch nichts ist wie zuvor, wie Jesus irgendwo sagt.
    »Ich habe eine Angewohnheit«, sagt sie. »Ich schlage aufs Geratewohl die Bibel auf, wenn ich im Zweifel bin. Um einen Wink zu bekommen. Ein kleines Spielchen zwischen Gott und mir, wenn Sie wollen.« Bei einem anderen Menschen hätte diese Angewohnheit aussehen können wie eine der kleinen, punktuellen Funktionsstörungen, die Europäer überkommen, wenn sie zuviel allein sind. Aber nicht bei ihr. Sie ist nie allein. Sie ist mit Jesus verheiratet.
    »Vorhin, als Sie die Tür zugemacht hatten, habe ich sie aufgeschlagen. Sie öffnete sich auf der ersten Seite der Offenbarung. Die Sie erwähnt hatten. ›Ich habe die Schlüssel des Todes und des Totenreiches.«‹ Eine Weile lang stehen wir da und schauen uns an.
    »Die Schlüssel des Totenreiches«, sagt sie. »Wie weit wollen Sie gehen?«
    »Versuchen Sie's!«
    Einen Augenblick noch kämpft etwas in ihr.
    »Es gibt im Keller unter der Villa am Strandboulevard ein doppeltes Archiv. Im ersten liegen die Bücher und der Schriftwechsel. In dieses Archiv kommen die Prokuristen, die Buchhalter, ich und manchmal auch die Bürovorsteher. Das zweite liegt hinter dem ersten. Dort werden die Expeditionsberichte aufbewahrt. Bestimmte mineralogische Proben. Und dort ist auch eine ganze Wand mit Meßtischblättern. Ein Stativ für Bohrkerne, für die geologischen Bohrungen, etwa von der Größe eines Narwalzahns. Dort hat man im Prinzip nur mit Erlaubnis des Aufsichtsrats oder des Direktors Zugang.«
    Sie kehrt mir den Rücken zu.
    Mir ist angemessen feierlich zumute. Sie ist dabei, eine der – zweifellos sehr wenigen – Regelverstöße ihres Lebens zu begehen.
    »Ich kann Ihnen natürlich nicht sagen, daß die Schlüssel überall passen. Oder daß der Abloyschlüssel dort am Brett bei der Tür für die Haupttür ist.«
    Ich drehe langsam den Kopf. Hinter mir hängen, an kleinen Messinghaken, drei Schlüssel. Einer davon ist ein Abloy.
    »Die Villa als solche hat keine Alarmanlage. Der Schlüssel zum Kellerarchiv hängt im Safe im Büro. Einem elektrischen Safe mit einem sechsziffrigen Kode, dem Datum meiner Ernennung zur Leiterin der Buchhaltung. Der 17.05.57. Der Schlüssel paßt zum ersten und zweiten Kellerraum.«
    Sie dreht sich um und stellt sich neben mich. Näher kann sie der Berührung eines Mitmenschen nicht kommen, vermute ich.
    »Glauben Sie?« fragt sie.
    »Ich weiß nicht, ob es Ihr Gott ist.«
    »Das ist egal. Sie glauben an das Göttliche?«
    »Es gibt Morgen, da kann ich nicht mal an mich selber glauben.«
    Sie lacht zum zweitenmal an diesem Tag. Dann dreht sie sich um und geht zu ihrem Panorama.
    Als sie den Raum halb durchquert hat, stecke ich den Schlüssel in die Tasche. Mit den Fingerspitzen versichere ich mich, daß Rohrmanns Futter jedenfalls in dieser Tasche nicht ausgerissen ist.
    Dann gehe ich. Ich nehme die Treppe. Wenn es eine himmlische Vorsehung gibt, stellt sich die große Frage, wie direkt sie eingreift. Ob mich beispielsweise der liebe Gott höchstpersönlich auf dem Hejrevej 6 gesehen

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