Peter Hoeg
Leber über den Zaun. Man hört so viel über den verfeinerten Geruchssinn von Hunden. Ich befürchte, daß er die Tabletten riechen könnte. Meine Furcht wird beschämt. Er zieht sich die Leber rein wie ein Staubsauger.
Danach warten wir, der Hund und ich. Er wartet auf mehr Leber. Ich warte darauf zu sehen, was die Pharmaindustrie für die schlaflosen Tiere tun kann.
Dann kommt ein Auto. Ein Kombiwagen von der Dänischen Schäferhundzentrale. Am Kalkbrænderivej gibt es keine Stelle, wo man sich unsichtbar machen oder auch nur diskret zurückziehen könnte. Ich bleibe also stehen. Aus dem Auto steigt ein Mann in Uniform. Er mustert mich, kommt allerdings zu keiner befriedigenden Erklärung. Eine Dame im Pelz um ein Uhr nachts allein am äußersten Ende von Østerbro? Er schließt die Tür auf und nimmt den Hund an die Leine. Er holt ihn auf den Bürgersteig. Der Hund knurrt mich häßlich an. Doch plötzlich bekommt er Gummibeine und stolpert fast. Der Mann starrt ihn besorgt an. Der Hund schaut den Mann bittend an. Der öffnet die Rückklappe. Der Hund legt die Vorderpfoten in das Auto, doch das letzte Stück muß der Mann ihn schieben. Der Mann steht vor einem Rätsel. Dann fährt er weg. Und überläßt mich meinen Gedanken über die Arbeitsweise der Dänischen Schäferhundzentrale. Ich komme zu dem Schluß, daß sie die Hunde nur zur Stichprobe aussetzen, nur ab und zu, und überall nur für kürzere Zeit. Jetzt fährt er ihn an einen anderen Ort. Ich hoffe, es gibt dort etwas Weiches, worauf das arme Tier schlafen kann.
Ich stecke also den Schlüssel ins Schloß. Die Tür läßt sich damit jedoch nicht öffnen. Man sieht die Situation direkt vor sich: Elsa Lübing ist immer zur Arbeit gekommen, wenn ein Pförtner ihr aufmachen konnte. Deshalb weiß sie nicht, daß die Außeneingänge andere Schlösser haben.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als den Zaun zu nehmen. Das braucht lange. Und endet damit, daß ich zuerst meine Stiefel hinüberwerfen muß. Ein Stück Seehundfell bleibt auf der Strecke.
Ich brauche nur einmal auf eine Karte zu schauen, und schon hebt sich die Landschaft aus dem Papier. Das habe ich nicht gelernt. Die Nomenklatur, das Zeichensystem mußte ich mir selbstverständlich aneignen. Die gestrichelten Höhenkurven auf den Meßtischblättern des Geodätischen Instituts. Die grünen und roten Parabeln auf den Vereisungskarten des Militärs. Die scheibenförmigen, grauweißen Fotografien des X-Bandradars. Die multispektralen Scanningaufnahmen von LANDSAT 3. Die bonbonfarbene Sedimentkarte der Geologen. Die roten und blauen thermischen Fotografien. Aber genaugenommen war das, als würde man ein neues Alphabet lernen. Um es zu vergessen, sobald man lesen kann. Den Text vom Eis. In dem Buch im Geologischen Institut war eine Karte der Kryolithgesellschaft Dänemark. Eine Matrikelkarte, eine Luftaufnahme und ein Gebäuderiß. Als ich jetzt auf dem Platz stehe, weiß ich, wie es hier einmal ausgesehen hat.
Jetzt ist das Ganze eine Abbruchruine. Dunkel wie ein Loch, mit weißen Flecken, wo der Schnee zusammengeweht ist.
Ich bin an der Stelle hereingekommen, wo einmal die Rückseite der Rohkryolithhalle gestanden hat. Das Fundament ist noch da. Ein verlassener Fußballplatz aus gefrorenem Beton. Ich suche nach Eisenbahngleisen. Und stolpere im selben Moment über die Schwellen. Die Gleise der Bahn, die das Erz vom Kai der Gesellschaft hereinbrachte. Eine Silhouette in der Dunkelheit sind die Baubuden der Handwerker, wo einmal die Schmiede, die Maschinenstation und die Schreinerwerkstatt gelegen haben. Ein Keller voller Mauerbrocken war einmal der Keller unter der Werkkantine. Das Fabrikgelände durchschneidet die Svanekegade. Auf der anderen Straßenseite steht ein Wohnblock mit Unmengen von elektrischen Weihnachtssternen, Unmengen von Kerzen, Unmengen von Vätern, Müttern und Kindern. Und vor den Fenstern haben sie: die beiden länglichen Laborgebäude, die noch nicht abgerissen sind. Ist das ein Bild der Beziehung, die Dänemark zu seiner ehemaligen Kolonie hat – ein Bild für die Desillusionierung, die Resignation, den Rückzug? Für die Beibehaltung der letzten Verwaltungsklammer: die Verfügungsgewalt über die Außenpolitik, die Bodenschätze, die militärischen Interessen?
Die Villa vor mir sieht gegen das Licht des Strandboulevards aus wie ein Schlößchen.
Es ist ein Winkelbau. Der Eingang liegt oberhalb einer fächerförmigen Granittreppe in dem Flügel, der auf den Strandboulevard
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