Peter Hoeg
hinweg die Türme von Kopenhagen. Hoch über der Stadt stehen wie in einer Glasglocke Elsa Lübing und ich und versuchen, uns aneinander heranzutasten.
Sie bietet mir einen Bügel für mein Cape an. Unwillkürlich ziehe ich die Schuhe aus. Irgend etwas in dem Raum fordert dazu auf. Wir setzen uns in zwei hochlehnige Sessel.
»Um diese Zeit«, bemerkt sie, »bete ich für gewöhnlich.«
Sie sagt das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als sei sie zu dieser Zeit für gewöhnlich mitten im Fitneßprogramm der Herzliga.
»Sie haben sich also – unwissentlich – eine ungelegene Zeit ausgesucht.«
»Ich habe in dem Brief Ihren Namen gelesen und Sie im Telefonbuch nachgeschlagen«, erwidere ich.
Sie schaut sich das Papier noch einmal an. Dann nimmt sie die schmale Lesebrille mit den dicken Gläsern ab.
»Ein tragisches Unglück. Vor allem für das Kind. Ein Kind muß beide Eltern um sich haben. Das ist einer der praktischen Gründe dafür, daß die Ehe heilig ist.«
»Das hätte Herr Lübing sicher gern gehört.«
Wenn ihr Mann tot ist, beleidige ich mit dem Konjunktiv niemanden. Wenn er noch lebt, ist das ein geschmackvolles Kompliment.
»Es gibt keinen Herrn Lübing«, sagt sie. »Ich bin eine Braut Jesu.«
Sie sagt das ernst und zugleich kokett, so als hätten sie vor ein paar Jahren geheiratet und die Beziehung sei sehr glücklich und anscheinend von Dauer.
»Das heißt jedoch nicht, daß die Liebe zwischen Mann und Frau für mich nicht etwas Göttliches ist. Aber eben doch nur ein Stadium auf dem Weg. Ein Stadium, das ich mir zu überspringen erlaubt habe, wenn ich das so sagen darf.«
Sie schaut mich an. Aus ihrem Blick spricht so etwas wie hintergründiger Humor.
»Wie wenn man in der Schule eine Klasse überspringt.«
»Oder«, sage ich, »wie wenn man bei der Kryolithgesellschaft Dänemark den Sprung von der Buchhalterin zur Leiterin der Buchhaltung macht.«
Als sie lacht, ist ihr Lachen so tief wie das eines Mannes.
»Liebes Fräulein«, sagt sie, »sind Sie verheiratet?«
»Nein, auch nie gewesen.«
Wir rücken einander näher. Zwei reife Frauen, die beide wissen, was es heißt, ohne Männer zu leben. Sie scheint das besser zu verkraften als ich.
»Der Junge ist tot«, sage ich. »Vor vier Tagen ist er von einem Dach heruntergefallen.«
Sie steht auf und geht zur Glaswand. Wenn man so gut und würdevoll aussehen könnte, müßte das Altwerden eigentlich ein Vergnügen sein. Ich lasse den Gedanken fallen. Allein schon die Mühe, die dreißig Zentimeter zu wachsen, die sie größer ist als ich.
»Ich habe ihn ein einziges Mal gesehen«, sagt sie. »Wer ihn kennengelernt hat, hat begriffen, warum geschrieben steht, wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so wird euer nicht das Himmelreich. Ich hoffe, die arme Mutter findet zu Jesus Christus.«
»Nur, wenn er ganz unten in der Flasche anzutreffen ist.«
Sie sieht mich an, ohne zu lächeln.
»Er ist überall. Auch da unten.«
Anfang der sechziger Jahre hatte die christliche Mission in Grönland noch etwas von dem bebenden Nerv des Imperialismus. Die Zeit danach und vor allem Thule Airbase haben uns, die Grönländer, von den Außenposten der Religion mit Containern voller Pornohefte, Whisky und der Nachfrage nach Halbprostitution in einer Leere aus Staunen sitzenlassen. Ich habe das Gespür dafür verloren, wie man gläubige Europäer angeht.
»Wie haben Sie Jesaja kennengelernt?«
»Ich habe in der Gesellschaft meinen bescheidenen Einfluß geltend gemacht, um den Kontakt zu den Grönländern auszubauen. Unser Tagebau in Saqqaq war, genauso wie die Mine der Kryolithgesellschaft Öresund in Ivittuut, ein Sperrgebiet. Die Arbeitskräfte kamen aus Dänemark. Die einzigen Grönländer, die wir anstellten, waren die Putzfrauen, die kivfakker , wie man sie mit einer dänischen Verballhornung des grönländischen Die anderen dienen nannte. Nach der Eröffnung der Mine wurde sehr auf die strenge Trennung von Dänen und Eskimos geachtet. Ich habe in dieser Situation versucht, die Aufmerksamkeit auf das Gebot der Nächstenliebe zu lenken. In jahrelangen Abständen haben wir im Zusammenhang mit den geologischen Expeditionen dann auch mal Eskimos angestellt. Bei einer solchen Expedition ist Jesajas Vater umgekommen. Obwohl seine Frau ihn und das Kind verlassen hatte, trug er weiterhin zu ihrem Lebensunterhalt bei. Als der Aufsichtsrat die Rente bewilligt hatte, bat ich sie und das Kind ins Büro. Dort habe ich ihn gesehen.«
Bei dem Wort
Weitere Kostenlose Bücher