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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Dinge anzumerken. Erstens, daß der Stecker herausgezogen ist, und zweitens, daß daneben kein Block, kein Telefonverzeichnis und kein Bleistift liegt. Das habe ich schon beim Hereinkommen gesehen. Jetzt beginne ich zu begreifen, was sie mit den zufälligen Telefonnummern macht, die wir anderen an die Wand und auf den Handrücken schreiben oder der Vergessenheit anheimgeben. Sie steckt sie in ihr sagenhaftes Zahlengedächtnis.
    »Seitdem hat meines Wissens niemand Grund gehabt, sich über die Großzügigkeit oder Offenheit der Gesellschaft zu beklagen. Und was vorher gewesen war, wurde korrigiert. Als ich kam, gab es sechs Kantinen. Eine Werkkantine für die Arbeiter, eine Kantine für die Büroangestellten, eine für die Handwerker, eine für die Bürovorsteher und den Leiter der Buchhaltung, eine für die wissenschaftlichen Mitarbeiter drüben in den Laborgebäuden und eine für den Direktor und den Aufsichtsrat. Aber das hat sich bald geändert.«
    »Sie haben Ihren Einfluß geltend gemacht?« schlug ich vor.
    »Wir hatten im Aufsichtsrat ja mehrere Politiker. Irgendwann auch unseren berühmten Sozialdemokraten Steincke. Da ich nun Zeuge eines Zustands war, der gegen mein Gewissen ging, ging ich zu ihm – am 17. Mai 1957, nachmittags um vier, an dem Tag, an dem ich zur Leiterin der Buchhaltung ernannt worden war. Ich sagte: ›Ich weiß nichts über den Sozialismus, Herr Steincke. Aber ich höre, daß er in gewissen Zügen mit der Lebensführung der christlichen Urgemeinde übereinstimmt. Deren Mitglieder haben, was sie besaßen, den Armen gegeben und miteinander wie Brüder und Schwestern gelebt. Wie lassen sich diese Gedanken mit sechs Kantinen vereinbaren, Herr Steincke?‹ Er antwortete mit der Bibel. Er sagte, man müsse Gott geben, was Gottes sei, aber auch dem Kaiser, was des Kaisers sei. Doch nach einigen Jahren gab es nur noch die Werkkantine.«
    Als sie den Tee einschenkt, nimmt sie ein Sieb, um zu verhindern, daß Teeblätter durchrutschen. Unter der Tülle der Kanne klebt ein bißchen Watte, damit der Tee nicht auf den Tisch tropft. In ihrem Innern vollzieht sich etwas Ähnliches. Was sie ärgert, ist die ungewohnte Arbeit, aussieben zu müssen, was nicht zu mir durchtropfen darf.
    »Wir sind – waren – ja teilweise staatlich. Nicht halbstaatlich wie die Kryolithgesellschaft Öresund. Aber der Staat war im Aufsichtsrat vertreten und hatte 33,33 Prozent der Aktien. Auch bei den Jahresbilanzen herrschte große Offenheit. Es wurden ja von allem Durchschläge auf altmodischem Durchschlagpapier gemacht.« Sie lächelt. »Das an das berühmte Toilettenpapier Nummer 00 erinnerte. Teile der Jahresbilanz wurden von der Rechnungsabteilung im Ministerium durchgesehen, der Institution, die am 1. Januar 1976 zum Reichsrechnungshof gemacht wurde. Das Problem war die Zusammenarbeit mit den Privatunternehmen. Mit der Svenska Diamantborrningsaktiebolag, mit Greenex und mit der Zeit auch mit der Grönländischen Gesellschaft für Geologische Untersuchungen. Es waren die halben und viertel Stellen. Das machte die Beziehungen kompliziert. Und es gab ja auch noch die Hierarchie. Die muß es freilich in jedem Unternehmen geben. Es gab Bereiche der Buchhaltung, zu denen nicht einmal ich Zugang hatte. Ich hatte meine Bücher in graues Moleskin mit rotem Druck gebunden. Wir haben sie in einem Tresor im Archiv. Aber es gab auch eine kleinere, vertrauliche Buchhaltung. Die muß es ja geben. Das kann in einem großen Unternehmen ja gar nicht anders sein.«
    ›Haben sie im Archiv‹. Das ist Gegenwart.
    »Ich bin vor zwei Jahren pensioniert worden. Seitdem stehe ich als Buchhaltungsexpertin mit dem Unternehmen in Verbindung.«
    Ich versuche es ein letztes Mal.
    »An der Abrechnung für die Expedition vom Sommer 1991, war an der etwas Besonderes?«
    Einen Augenblick bilde ich mir ein, fast an sie heranzukommen. Dann rutschen die Filter vor.
    »Ich kann mich auf mein Gedächtnis nicht ganz verlassen.«
    Ich dränge noch ein letztes Mal. Was taktlos und von vornherein zum Mißlingen verdammt ist.
    »Kann ich das Archiv sehen?«
    Sie schüttelt nur den Kopf.
    Meine Mutter rauchte eine Shagpfeife aus alten Patronenhülsen. Sie log nie. Wenn sie jedoch eine Wahrheit verbergen wollte, kratzte sie die Pfeife aus, steckte das Ausgekratzte in den Mund, sagte mamartoq , herrlich, und tat danach so, als sei sie außerstande zu sprechen. Verschweigen ist auch eine Kunst.
     
    »War es«, frage ich, während ich mir die Schuhe anziehe,

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