Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Vom Netzwerk:
fertig bin, traue ich mich doch nicht, das elektrische Licht einzuschalten, sondern begnüge mich mit meiner Taschenlampe.
    In einem Archiv sollte eigentlich unerbittliche Ordnung herrschen. Das Archiv ist ganz einfach der auskristallisierte Wunsch nach einer geordneten Vergangenheit. Damit dynamische und gehetzte junge Leute hereinflitzen, sich eine bestimmte Akte, einen bestimmten Bohrkern aussuchen und mit genau diesem Ausschnitt der Vergangenheit wieder hinausflitzen können.
    Dieses Archiv hier läßt allerdings einiges zu wünschen übrig. Die Regale haben keine Beschriftung. Das archivierte Material trägt auf dem Rücken weder Nummern noch Jahreszahlen oder Buchstaben. Als ich ein paarmal aufs Geratewohl zugreife, ziehe ich Coal petrographic analyses on seams from Ata (low group profiles), Nugssuaq, West Greenland, Über den Einsatz von verarbeitetem Rohkryolith bei der Herstellung von elektrischen Birnen und Grenzziehungen im Siedlungsplan von 1862 heraus.
    Ich gehe nach oben und zu einem Telefon. Anrufen kommt einem immer falsch vor. Ganz besonders dann, wenn man vom Tatort aus anruft. Als hätte ich die direkte Nummer des Polizeipräsidiums gewählt, um mich selber anzuzeigen.
    »Hier Elsa Lübing.«
    »Ich stehe hier zwischen Bergen von Papier und versuche mich daran zu erinnern, wo geschrieben steht, daß selbst die Erwählten Gefahr laufen, in die Irre zu gehen.«
    Erst wartet sie, dann lacht sie.
    »Bei Matthäus. Aber vielleicht ist die richtige Stelle für diese Gelegenheit eher die bei Markus, wo Jesus sagt: ›Irrt ihr nicht deshalb, weil ihr die Schriften nicht kennt noch die Kraft Gottes?‹«
    Wir kichern beide ein bißchen ins Telefon.
    »Ich lehne jede Verantwortung ab«, sagt sie. »Ich bitte schon seit fünfundvierzig Jahren darum, daß aufgeräumt und systematisiert wird.«
    »Freut mich, daß es etwas gibt, was Sie nicht durchgekriegt haben.«
    Im Hörer ist es still.
    »Wo?« frage ich.
    »Über der Bank – dem langen Holzkasten – sind zwei Regalbretter. Dort stehen die Expeditionsberichte. Alphabetisch nach den Mineralien geordnet, nach denen man gesucht hat. Die Bände, die am nächsten beim Fenster stehen, enthalten die Reisen, die einen geologischen und einen historischen Zweck verfolgten. Der Bericht, den Sie suchen, müßte unter den letzten sein.«
    Sie will gerade auflegen.
    »Fräulein Lübing«, sage ich.
    »Ja.«
    »Sind Sie jemals einen Tag krank gewesen?«
    »Der Herr hat seine Hand über mich gehalten.«
    »Hab ich mir gedacht«, sage ich. »Hatte ich irgendwie im Gefühl.« Danach legen wir auf.
    Ich brauche keine zwei Minuten, um den Bericht zu finden. Er ist in einer schwarzen Klemmappe abgeheftet. Er hat vierzig unten rechts numerierte Seiten.
    Er paßt gerade noch in die Handtasche. Danach muß ich die Plastikverdunkelung entfernen und über den Kalkbrænderivej so spurlos verschwinden, wie ich gekommen bin.
    Ich kann meine Neugierde nicht zähmen. Ich nehme den Bericht und setze mich am anderen Ende des Raums mit dem Rücken an ein Regal gelehnt auf den Fußboden. Es gibt unter meinem Gewicht nach. Es ist ein wackliges Holzregal. Sie haben nicht gewußt, daß das Archiv so groß sein würde. Daß Grönland so überraschend unerschöpflich ist. Sie haben einfach nachgeschoben. Die Spuren der Zeit auf ein schwaches Holzskelett.
    ›Die geologische Expedition der Kryolithgesellschaft Dänemark nach Gela Alta, Juli-August 1991‹, steht auf dem Titelblatt. Danach folgen zwanzig engbeschriebene Seiten Expeditionsbericht. Ich überfliege die ersten Seiten, die einleitungsweise berichten, daß der Zweck der Expedition gewesen sei, ›das Vorkommen von Kornerupinkristallen auf dem Barrengletscher von Gela Alta zu untersuchen‹. Der Text zählt auch die fünf europäischen Expeditionsteilnehmer auf. Unter anderem einen Professor für arktische Ethnologie, Dr. Andreas Fine Licht. Der Name erinnert mich entfernt an irgend etwas. Doch als ich versuche, dieser Erinnerung nachzuspüren, bricht die Spur ab. Ich vermute, daß seine Anwesenheit erklärt, warum unten auf der Seite steht, daß die Expedition vom ›Institut für arktische Ethnologie‹ unterstützt wurde.
    Danach kommt ein Bericht mit einem englisch- und einem dänischsprachigen Teil. Auch in dem blättere ich ein bißchen. Es geht darin um eine Hubschrauberrettungsexpedition von Holsteinsborg zum Barrengletscher. Der Helikopter konnte wegen des durch den Motorlärm großen Lawinenrisikos nicht nah genug herankommen.

Weitere Kostenlose Bücher