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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Deshalb kehrte er um, und man schickte statt dessen eine Cherokee Six 3000. Ich habe keine Ahnung, was das ist, aber da steht, daß sie auf dem Wasser landete und einen Piloten, einen Navigator, einen Arzt und eine Krankenschwester an Bord hatte. Es folgt ein kurzer Bericht der Rettungsmannschaft und ein ärztliches Attest des Krankenhauses. Es hat fünf Tote gegeben. Einen Finnen und vier Eskimos. Einer der Eskimos hieß Norsaq Christiansen.
    Zwanzig Seiten Anlagen. Übersicht über die mitgebrachten mineralogischen Proben. Die Abrechnung. Eine lange Reihe von Schwarzweißaufnahmen, die vom Flugzeug aus aufgenommen worden sind und einen Gletscher zeigen, der sich teilt und um eine helle, abgeschnittene Kegelklippe herumtreibt.
    Eine Plastikhülle enthält Kopien von ungefähr zwanzig Briefen, die alle den Transport der Leichen betreffen.
    Am Ende der Abrechnung als Anlage eine gesonderte Berechnung der Vor- und Nachteile, die sich aus der Tatsache ergeben haben, daß die Expedition das Schiff Disko 3 von der Grönländischen Handelsgesellschaft gechartert hat.
    Das Ganze sieht nüchtern und korrekt aus. Es ist tragisch, und dabei doch nur, was nun einmal passieren kann. Nichts, was erklären könnte, weshalb zwei Jahre später ein kleiner Junge in Kopenhagen vom Dach fällt. Der Gedanke meldet sich, daß ich Gespenster gesehen habe. Daß ich in die Irre gegangen bin. Daß das Ganze eine Gedankenspinnerei von mir ist.
    Erst jetzt merke ich, wie vergangenheitsschwer der Raum um mich ist. Reihen von Tagen, Reihen von Zahlen, Reihen von Leuten, die jeden Tag, jahraus, jahrein in der Kantine ihre Brote gegessen und sich mit der Marie ein Bier geteilt haben, und nie mehr als eins, außer zu Weihnachten, wenn das Labor für die Weihnachtsfeier einen Ballon 96%igen Desinfektionsalkohol auf Kümmel angesetzt hat. Das Archiv ruft mir zu, daß sie zufrieden gewesen sind. Genau das stand auch in dem Bibliotheksbuch, und auch Elsa Lübing hat es gesagt: ›Wir waren zufrieden. Es war ein guter Arbeitsplatz.‹
    Wie so oft verspüre ich einen Stich in der Brust, wäre gern dabei gewesen, hätte gern teilgenommen. In Thule und Siorapaluk hat niemand gefragt, was die Leute sind, denn alle waren Robbenfänger, alle haben mit angepackt. In Dänemark ist man Lohnabhängiger, es verleiht dem Dasein Fülle und Sinn, daß man weiß, jetzt krempelt man die Ärmel hoch, steckt sich den Bleistift hinters Ohr, zieht die Seestiefel hoch und geht zur Arbeit. Und wenn man frei hat, sieht man fern oder besucht Freunde oder spielt Badminton oder macht einen Computerkurs für Comal 80. In der Weihnachtszeit findet das Leben nicht mitten in der Nacht in einem Keller am Strandboulevard statt.
    Solche Gedanken habe ich nicht zum ersten- und auch nicht zum letztenmal. Was bringt uns nur dazu, den Sturz in die Depression regelrecht zu suchen?
    Als ich den Bericht zuklappe, kommt mir ein Gedanke. Ich schlage auf und blättere zu dem ärztlichen Bericht zurück. Dort sehe ich etwas. Und weiß, daß es die ganze Mühe wert gewesen ist. Ich habe Freundinnen in Grönland erlebt, die, nachdem sie entdeckt hatten, daß sie schwanger waren, mit sich plötzlich so vorsichtig umgingen wie nie zuvor. Dieses Gefühl durchläuft mich jetzt. Von jetzt an muß ich auf mich aufpassen.
    Der Verkehr hat aufgehört. Ich trage keine Uhr, aber es könnte ungefähr drei sein.
    Das Gebäude ist still. Doch in der Stille ist plötzlich ein falsches Geräusch. Zu nahe, um zur Straße zu gehören. Aber schwach wie ein Flüstern. Von meinem Platz aus ist die Türöffnung zum ersten Raum ein schwach leuchtendes, gräuliches Rechteck. Ich sehe es, und im nächsten Moment ist es weg. Jemand hat den Raum betreten, jemand, der mit seinem Körper das Licht aussperrt.
    Wenn ich den Kopf drehe, kann ich eine Bewegung an den Regalen verfolgen. Ich ziehe meine Stiefel aus. Zum Laufen sind sie nicht gut. Ich stehe auf. Wenn ich den Kopf drehe, kriege ich die Gestalt in den schwach leuchtenden Rahmen der Tür.
    Wir glauben, daß der Umfang der Angst eine Grenze hat. Das gilt nur, bis wir dem Unbekannten begegnen. Entsetzen haben wir alle in grenzenlosen Mengen.
    Ich packe fest zu und kippe ein Regal zu ihm hin. Kurz bevor es schneller wird, fällt das erste Heft heraus. Das warnt ihn, er kriegt gerade noch die Hände hoch und bremst das Regal. Erst ein Geräusch, als würde es seine Unterarmknochen brechen. Dann fällt zu Boden, was wie fünfzehn Tonnen Bücher klingt. Er kann das Regal

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