Peter Hoeg
nicht loslassen. Aber es drückt sehr schwer auf ihn. Und langsam fangen seine Beine an nachzugeben.
Unter großen Teilen der Bevölkerung hat sich das Mißverständnis breitgemacht, daß Gewalt immer nur dem physisch Starken zum Vorteil gereicht. Das ist nicht richtig. Wie eine Schlägerei ausgeht, ist eine Frage der Geschwindigkeit auf den ersten Metern. Als ich nach einem halben Jahr Rugmarkschule in die Skovgirdsschule umgeschult wurde, begegnete ich zum erstenmal der klassischen dänischen Verfolgung der ›anderen‹. Dort, wo wir herkamen, waren wir allesamt Ausländer und im selben Boot gewesen. In meiner neuen Klasse war ich die einzige mit schwarzen Haaren und unbeholfenem Dänisch. Besonders ein Junge aus einer höheren Klasse war wirklich äußerst brutal. Ich bekam heraus, wo er wohnte. Dann stand ich früh auf und wartete auf ihn. An der Stelle, wo er über den Skovshovedvej mußte. Er hatte mir fünfzehn Kilo voraus. Er hatte keine Chance. Er bekam nie die paar Minuten, die er brauchte, um sich in Trance zu bringen. Ich schlug ihm mitten ins Gesicht und brach seine Nase. Danach trat ich ihm erst gegen die eine, danach gegen die andere Kniescheibe, um ihn auf eine handlichere Höhe zu kriegen. Zwölf Stiche waren nötig, um seine Nasenscheidewand wieder zurechtzurücken. Eigentlich hat nie jemand so recht daran geglaubt, daß ich das hätte gewesen sein können.
Auch diesmal bleibe ich nicht stehen, bohre nicht in der Nase und warte nicht auf Weihnachten. Ich nehme eines der Messingrohre mit fünfzig Meßtischblättern von der Wand und ziehe ihm, so fest ich kann, eins über den Nacken.
Er geht sofort zu Boden, auf ihn drauf fällt das Regal. Danach warte ich, um zu sehen, ob er vielleicht Freunde mithat. Oder einen kleinen Hund. Aber es sind nirgends andere Geräusche zu hören, nur sein Atem unter dreißig Regalmetern.
Ich leuchte ihm ins Gesicht. Es hat sich ein Teil Bücherstaub auf ihn gelegt. Der Schlag hat ihm die Ohrkante gespalten.
Er hat schwarze Trainingshosen, einen dunkelblauen Pullover, eine schwarze Wollmütze und dunkelblaue Seemannsschuhe an und ein schwarzes Gewissen. Es ist der Mechaniker.
»Peter«, sage ich. »Schwarzer Peter.«
Er kann wegen des Regals nicht antworten. Ich versuche es wegzuschieben, aber es ist unverrückbar.
Ich muß die professionellen Sicherheitsmaßnahmen fahrenlassen und das Licht anmachen. Ich mache mich daran, Papier, Bücher, Aktendeckel, Berichte und Bücherstützen aus massivem Stahl aus dem Regal zu schaufeln. Ich muß drei Meter räumen. Das dauert eine Viertelstunde. Danach kann ich es einen Zentimeter anheben, und der Mechaniker kann darunter hervorkriechen. Zur Wand, wo er sich hinsetzt und seinen Schädel befühlt.
Erst jetzt fangen meine Beine an zu zittern.
»Ich habe Sehstörungen«, sagt er. »Ich glaube, ich habe eine G-Gehirnerschütterung.«
»Ist ja man gut. So wissen wir, daß du ein Gehirn hast!«
Es vergeht eine Viertelstunde, bis er aufrecht stehen kann. Auch dann sieht er noch aus wie Bambi auf dem Eis. Eine weitere halbe Stunde brauchen wir, um das Regal hochzukriegen. Wir müssen erst alle Papiere herausnehmen, bevor wir es aufrichten können, und danach müssen wir sie alle wieder hineinstellen. Es wird so warm, daß ich meinen Rock ausziehen und in Strumpfhosen arbeiten muß. Er läuft barfuß und mit nacktem Oberkörper herum, bekommt immer wieder Hitzewallungen und Schwindelanfälle und muß sich ausruhen. Der Schock und die unbeantworteten Fragen hängen in der Luft, und das mit so viel Staub, daß man einen Sandkasten damit füllen könnte.
»Hier riecht es nach Fisch, Smilla.«
»Dorschleber«, sage ich. »Soll sehr gesund sein.«
Er sieht schweigend zu, wie ich den elektrischen Safe aufmache und den Schlüssel an seinen Platz hänge. Dann gehen wir. Er führt mich zu einer Zauntür an der Svanekegade. Sie ist offen. Als wir durch sind, beugt er sich über das Schloß. Es klickt.
Sein Auto steht in der nächsten Straße. Ich muß ihn mit einer Hand stützen. In der anderen habe ich einen Abfallsack, in dem andere Abfallsäcke stecken. Eine Polizeistreife fährt langsam an uns vorbei, hält aber nicht. Man sieht hier vor Weihnachten nachts auf den Straßen so viele sonderbare Gestalten. Sollen sich die Leute doch amüsieren, wie es ihnen paßt.
Der Mechaniker hat mir erzählt, daß er versucht, seinen Wagen in einem Oldtimermuseum unterzubringen. Es ist ein Morris 1000 von 1961. Hat er mir erzählt. Mit roten
Weitere Kostenlose Bücher