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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Entschlossenes.
    Ihre Augen liegen tief, sie ist bleicher als das letztemal, als hätte es sie schlaflose Nächte gekostet, bis dahin zu kommen.
    Oder aber das Ganze ist Einbildung. Vielleicht sieht sie so aus, weil sie Weihnachten mit Fasten und Wachen gefeiert und zweimal am Tag siebenhundertmal ihr Herzensgebet gebetet hat.
    »In gewisser Weise haben die dreißig Jahre alles verändert. Und in gewisser Weise ist alles beim alten geblieben. Der damalige Direktor – in den fünfziger Jahren und Anfang der sechziger – war Konferenzrat Ebel. Er und seine Gattin hatten beide ihren Rolls-Royce in Sonderanfertigung. Ab und zu hielt einer der Wagen vor dem Gebäude, und der Chauffeur in Livree wartete am Steuer. Dann wußten wir, daß er oder seine Frau die Fabrik besuchte. Sie selbst sahen wir nie. Die Gattin hatte einen privaten Salonwagen, der in Hamburg stand und mehrmals im Jahr an den Zug angehängt wurde, und dann fuhren sie an die Riviera. Für die Tagesgeschäfte waren der Finanzleiter, der Verkaufsleiter und Oberingenieur Ottensen zuständig. Ottensen war immer im Labor oder in der Mine von Saqqaq. Ihn sahen wir nie. Der Verkaufsleiter war ständig auf Reisen. Ab und zu kam er nach Hause und verstreute sein Lächeln, Geschenke und frivole Anekdoten. Ich erinnere mich, daß er, als er das erstemal nach dem Krieg aus Paris zurückkam, Seidenstrümpfe mitbrachte.«
    Sie lacht bei dem Gedanken daran, daß sie sich einmal über Seidenstrümpfe hat freuen können.
    »Ich habe bemerkt, daß Sie auch an Kleidern interessiert sind. Das vergeht mit dem Alter. Die letzten dreißig Jahre habe ich nur Weiß getragen. Wenn man das Irdische begrenzt, macht man das Denken für das Geistige frei.«
    Ich sage nichts, aber das ist eine Bemerkung, die ich mir hinter die Ohren schreibe. Für das nächstemal, wenn ich mir bei Tvilling in der Heinesgade Hosen nähen lassen will. Der Schneidermeister sammelt solche golden funkelnden Weisheiten.
    »Es war ein Apparat von 165 Zentimetern mal ein Meter mal 120 Zentimeter. Er arbeitete mit zwei verschiedenen Funktionsstangen. Einer für kontinentale Münzsorten und einer für englische Pfund Sterling und Pence. Die relevanten Informationen waren mit einer Art Lochkode in Karteikarten eingestanzt, die man in die Maschine steckte. Das bedeutete, daß die Informationen weniger direkt zugänglich waren. Wenn man Zahlen auf Lochkarten zusammenpreßt und in Kodes umsetzt, werden sie schwerer verständlich. Das ist Zentralisierung. Das sagte jedenfalls der Direktor. Und daß die Zentralisierung immer gewisse Unkosten mit sich bringt.«
    Irgendwie kann man sich inzwischen leicht orientieren. Jedes Phänomen ist international geworden. Die Grönländische Handelsgesellschaft schloß – im Zuge der Zentralisierung – 1979 das Geschäft auf Maxwell Island. Mein Bruder war dort zehn Jahre lang Robbenfänger gewesen. Der Inselkönig, unangreifbar wie ein Pavianmännchen. Die Geschäftsschließung zwang ihn hinunter nach Upernavik. Als ich an der meteorologischen Station war, fegte er im Hafen die Kais. Im Jahr darauf hängte er sich auf. Es war das Jahr, in dem Grönland die höchste Selbstmordrate der Welt hatte. Das Grönlandministerium schrieb in Atuagagdliutit , es habe den Anschein, daß es schwer sein werde, die notwendige Zentralisierung mit dem Robbenfängergewerbe in Einklang zu bringen. Sie schrieben nicht, daß es im Laufe der Zeit sicher noch ein paar mehr Selbstmorde geben würde. Doch das klang sozusagen durch.
    »Probieren Sie die Plätzchen«, sagt sie. »Selbstgebackene Spekulatius. Ich habe ein ganzes Leben gebraucht, bis ich endlich gelernt hatte, wie man sie aus der Form löst, ohne daß das Muster kaputtgeht.«
    Die Plätzchen sind flach und dunkelbraun und haben an der Unterseite festgepreßte Mandelstückchen. Sie betrachtet sie aufmerksam. Ein Mensch, der sein ganzes Leben über allein gewesen ist, kann es sich erlauben, ganz spezielle Interessen zu verfeinern. Zum Beispiel, wie man Plätzchen aus der Form löst.
    »Ich schummele ein bißchen«, sagt sie. »Nehmen Sie zum Beispiel das hier. Die Form ist ein Ehepaar. Die Augen sind wirklich sehr schwer hinzukriegen. So ist das mit sehr trockenem Mürbeteig. Deswegen nehme ich, wenn sie aus dem Ofen kommen und auf dem Tisch liegen, eine Stricknadel. Das ist dann zwar nicht die ursprüngliche Form, aber doch fast. In einem Unternehmen geschieht etwas ganz Ähnliches. Dort heißt das ›gute Buchführungspraxis‹. Das ist ein

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