Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Vom Netzwerk:
schlief er ein und fiel ganz sachte zur Seite, ohne aufzuwachen. Dann hob ich ihn auf und trug ihn nach unten. Wenn es dort zu lärmig war, trug ich ihn wieder hoch und legte ihn aufs Bett. In dem Moment, in dem man ihn hinlegte, wachte er auf. Und in diesem halb schlafenden Zustand war es, als ob er mit einem heiseren Brummen ein paar Takte des Gehörten zu singen versuchte.
    Ich habe die Augen geschlossen. Es ist Nacht. Die letzten Weihnachtsgäste haben ihre mit Geschenken beladenen Anhänger nach Hause gefahren. Jetzt liegen sie in ihren Betten und freuen sich auf übermorgen, wenn sie in die Stadt gehen, die Geschenke umtauschen oder sich das Geld wiedergeben lassen können. Falls Opa und Oma nicht gleich so rücksichtsvoll gewesen sind und ihnen einen Gutschein geschenkt haben.
    Zeit für Pfefferminztee. Zeit, auf die Stadt hinauszuschauen. Ich wende mich zum Fenster. Es gibt ja immer noch die Hoffnung, daß es vielleicht angefangen hat zu schneien, während man dem Fenster den Rücken zugekehrt hatte.
    In diesem Augenblick lacht jemand.
    Ich bin sofort auf den Beinen und habe die Hände vorgestreckt. Das ist kein zartes Jungmädchenlachen. Das ist das Phantom der Oper. Ich will mein Leben so teuer wie möglich verkaufen.
    Vier leichte Taktvorgaben, dann beginnt die Musik. Es ist Jazz. Im Vordergrund eine Trompete, die sich breitmacht. Es kommt alles von Jesajas Band.
    Ich drücke die Stopptaste. Ich brauche einige Zeit, um die Füße wieder auf den Boden zu kriegen. Eine solide Panik aufzubauen dauert den Bruchteil einer Sekunde. Sie wieder loszuwerden kann einen halben Abend in Anspruch nehmen.
    Ich spule zurück und lasse den letzten Teil des Bandes noch einmal laufen. Wieder die Pausentaste. Keine Vorwarnung, plötzlich ist das Lachen da. Tief, triumphierend, sonor. Dann die Taktvorgaben. Dann die Musik. Es ist Jazz und doch kein Jazz. Sie hat etwas Euphorisches, Unzusammenhängendes. Wie vier Instrumente, die Amok laufen. Doch das täuscht. Denn die Musik hat auch eine sonderbare Präzision. Wie eine Clownsnummer auf dem Manegenrand. Wenn das Ganze wirken soll wie das absolute Chaos, braucht es die größte Genauigkeit.
    Von dem Stück sind vielleicht sieben Minuten zu hören. Dann läuft das Band aus, die Töne werden brutal abgewürgt.
    In der Musik ist Energie. Ein merkwürdiger Auftrieb, nach all der Angst hier, am Heiligabend um drei Uhr nachts.
    In Qaanaaq habe ich im Kirchenchor gesungen. Ich sah die drei Weisen vor mir, mit Schneeschuhen, auf Hundeschlitten fuhren sie über das Eis. Den Blick auf den Stern gerichtet. Ich wußte, wie ihnen zumute war. Sie hatten den absolute space erwischt. Sie wußten, daß sie auf dem rechten Weg waren. Zu einem Energiephänomen. Das nämlich war das Christkind für mich. Ich tat so, als würde ich die Noten lesen, die ich in Wirklichkeit nie begriffen, sondern immer nur auswendig gelernt habe.
    Jetzt, wo ich mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mir habe, geht es mir hier, im Weißen Schnitt, wieder genauso. Dabei ist es inzwischen unwichtig, daß ich nie selber ein Kind bekommen habe. Ich genieße das Meer und das Eis, ohne mich ständig um die Schöpfung betrogen zu fühlen. Ein Kind, das geboren wird, danach kann man sich richten, und nach einem Stern, dem Nordlicht, einer Säule aus Energie im All, danach kann man suchen. Und ein Kind, das stirbt, ist eine Grausamkeit.
    Ich stehe auf, gehe nach unten und klingele.
    Er macht im Pyjama auf. Schlaftrunken.
    »Peter«, sage ich. »Ich habe Angst. Aber ich mache trotzdem mit.«
    Er lacht, halb wach, halb im Schlaf.
    »Habe ich doch gewußt«, sagt er. » Habe ich doch gewußt.«

2
    »Dreißig ist eine biblische Zahl«, sagt Elsa Lübing. »Judas bekam dreißig Silberlinge. Jesus war dreißig Jahre alt, als er getauft wurde. Im neuen Jahr ist es dreißig Jahre her, daß die Kryolithgesellschaft eine automatisierte Buchhaltung bekam.«
    Es ist der zweite Weihnachtstag. Wir sitzen in denselben Sesseln. Dieselbe Teekanne steht auf dem Tisch, dieselben Tischschoner liegen unter den Teetassen. Und es ist dieselbe schwindelnde Aussicht, dasselbe weiße Winterlicht. Es könnte sein, daß die Zeit stehengeblieben ist. Als hätten wir die ganze letzte Woche hier gesessen, ohne uns zu bewegen. Und jetzt hat jemand auf einen Knopf gedrückt, jetzt nehmen wir den Faden da wieder auf, wo wir das letztemal aufgehört haben. Wenn nicht eines anders wäre. Sie scheint einen Entschluß gefaßt zu haben. Sie hat etwas

Weitere Kostenlose Bücher