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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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du das?« frage ich.
    Er schaut aus dem Fenster.
    »Ich habe in der Schule halt aufgepaßt.«

3
    Es gibt Morgen, an denen man wie durch ein Schlammbad an die Oberfläche steigt. Die Füße fest in einen Sonnenschirmfuß zementiert. Wo man weiß, daß man im Laufe der Nacht seine Seele ausgehaucht hat. Und sich nur noch darüber freuen kann, daß man von selber gestorben ist und sie die entseelten Organe nicht transplantieren können.
    So sind sechs von sieben Morgen.
    Heute ist der siebte Tag. Ich wache auf und bin kristallklar. Ich steige aus dem Bett, als hätte ich etwas, wofür sich das Aufstehen lohnt.
    Ich mache die vier Yogaübungen, die ich gerade gelernt hatte, bevor ich den x-ten Mahnzettel von der Bibliothek bekam, sie einen Boten schickten und ich eine Strafgebühr bezahlen mußte, die so hoch war, daß ich das Buch genausogut hätte kaufen können.
    Ich dusche unter eiskaltem Wasser. Ziehe Leggings an, einen dicken Pullover, graue Stiefel und eine Pelzmütze von Jane Eberlein. Die ist in einer Art grönländischem Stil gemacht.
    Meine kulturelle Identität habe ich für immer verloren, das sage ich mir oft. Und wenn ich es oft genug gesagt habe, wache ich, wie heute morgen, mit einer sicheren Identität auf. Smilla Jaspersen – die Luxusgrönländerin.
    Es ist sieben Uhr. Ich gehe zum Hafen hinunter und auf das Eis hinaus.
    Das Eis im Kopenhagener Hafen empfiehlt sich nicht unbedingt, wenn Eltern ihre kleinen Kinder zum Spielen schicken wollen, nicht einmal bei so strengem Frost wie jetzt. Selbst ich muß vorsichtig sein, wenn ich da draußen herumlaufe.
    Etwa vierzig Meter weit draußen bleibe ich stehen. Hier wird die Eisoberfläche eine Spur dunkler. Ein Schritt weiter, und ich würde einbrechen. Ich stehe und schaukele. Meereseis ist porös und elastisch, das Wasser dringt nach oben und bildet um meine Stiefel zwei Spiegelflächen, die das diffuse Licht in der Dunkelheit reflektieren.
    Auf den Wellenbrechern steht ein Mann. Eine schwarze Silhouette vor den weißen Hausmauern. Die Angst schlägt aus wie ein vibrierender Ton. Die Robbe in Lebensgefahr, wenn sie auf dem Eis liegt. So empfindlich, so sichtbar, so unbeweglich. Dann erstirbt der Ton. Es ist der Mechaniker, vornübergebeugt, vierschrötig, wie ein großer Stein.
    Man ist so daran gewöhnt, die Stadt aus bestimmten Winkeln zu sehen, daß sie von hier aus wie eine fremde, nie gesehene Hauptstadt wirkt. Wie Venedig. Oder Atlantis. Eine Stadt, die, in Schnee und Nacht eingehüllt, aus Marmor sein könnte. Ich gehe zum Kai zurück.
    Er könnte ein anderer sein. Ich könnte eine andere sein. Wir hätten ein junges Liebespaar sein können. Statt eines stotternden Legasthenikers und eines verbitterten Drachen, die einander halbe Wahrheiten erzählen und sich auf einer zweifelhaften Fährte begleiten.
    Als ich vor ihm stehe, packt er mich an den Schultern.
    »Das ist lebensgefährlich!«
    Wenn ich es nicht besser wüßte, hätte ich schwören können, daß seine Stimme etwas fast Flehendes hat. Ich mache mich los.
    »Ich habe ein gutes Verhältnis zum Eis.«
     
    Als wir den Rat Junger Grönländer auflösten, um die IA zu gründen, und von den Sozialdemokraten in der SIUMUT und der reaktionären grönländischen Oberschicht in der ATASSUT deutlich unterschieden sein wollten, lasen wir das Kapital . Ich mochte das Buch sehr. Wegen seines bebenden, femininen Mitgefühls und seiner furiosen Empörung. Ich kenne kein anderes Buch, das einen so starken Glauben daran hat, daß man, wenn man den Willen zur Veränderung hat, sehr weit kommen kann.
    Leider bin ich für mich da nicht so sicher. Ich habe viel bekommen und ziemlich viel gewollt. Und habe am Ende doch nichts Richtiges und weiß nicht wirklich, was ich will. Ich habe die Grundlagen einer Ausbildung mitbekommen, ich bin gereist. Manchmal finde ich, daß ich getan habe, was ich wollte. Trotzdem bin ich geführt worden. Irgendeine unsichtbare Hand hat mich am Schlafittchen gehalten, und jedesmal, wenn ich meinte, jetzt mache ich einen entscheidenden Schritt hinauf ans Licht, hat sie mich noch tiefer in das Kanalisationsnetz gedrückt, das unter einer Landschaft verläuft, von der ich nicht weiß, wie sie aussieht. Als sei es vorherbestimmt, daß ich soundso viele Kubikmeter Abwasser schlucken muß, bevor ich ein bißchen Platz zum Atmen zugeteilt bekomme.
    In der Regel schwimme ich gegen den Strom. Doch an manchen Morgen, so wie heute, habe ich Überschuß genug, um einfach aufzugeben. Jetzt, wo

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