Peter Hoeg
Veranlassung wurden die Bücher auch danach noch manuell geführt. 1992 wurde ich pensioniert. Drei Wochen vor meinem letzten Arbeitstag stimmten wir die Bücher ab. Der Finanzleiter schlug vor, den Bilanzabschluß dem Prokuristen zu überlassen. Ich bestand darauf, ihn selbst vorzunehmen. Am 7. Januar – genau fünfundzwanzig Jahre nach dem Ereignis, von dem ich gesprochen habe – saß ich über der Abrechnung der Expedition nach Gela Alta vom Sommer zuvor. Es war wie ein Zeichen. Ich suchte die alten Bücher heraus. Ich verglich Punkt für Punkt. Das war natürlich schwierig. Die Expedition von 1991 war, wie das inzwischen üblich geworden war, über die Wissenschaftliche Kommission finanziert worden. Trotzdem ließen sie sich vergleichen. 1991 betrug der größte Posten 450.000 Kronen. Ich rief die Kommission an und bat um eine Spezifikation.« Sie hält inne und versucht, ihrer Entrüstung Herr zu werden.
»Später bekam ich einen Brief, dessen Inhalt in aller Kürze besagte, daß ich mit einer solchen Frage meinen unmittelbaren Vorgesetzten nicht hätte umgehen dürfen. Doch da war es zu spät. Denn an jenem Tag am Telefon, da hatten sie mir bereits Antwort gegeben. Mit den 450.000 hatte man ein Schiff gechartert.« Sie sieht, daß ich nichts verstehe.
»Ein Schiff«, sagt sie, »ein Küstenmotorschiff, das acht Mann an die grönländische Westküste bringen sollte, um einige Kilo Schmucksteinproben zu holen. Das ist sinnlos. Wir hatten von der Grönländischen Handelsgesellschaft mehrmals die Disko gechartert. Um das Kryolith zu transportieren. Aber ein Schiff für eine kleine Expedition – undenkbar. Erinnern Sie sich an Ihre Träume, Fräulein Smilla?«
»Ab und zu.«
»In der letzten Zeit habe ich mehrmals geträumt, daß Sie von der Vorsehung geschickt seien.«
»Dann sollten Sie mal hören, was die Polizei über mich sagt.«
Wie viele alte Menschen hat sie sich ein selektives Gehör zugelegt. Sie überhört meine Antwort und fahrt auf ihrem Gleis fort.
»Ich komme Ihnen vielleicht alt vor. Und Sie fragen sich, ob ich wohl senil bin. Aber denken Sie an die Offenbarung, ›Eure Alten werden Träume träumen‹.«
Sie schaut durch mich durch. Direkt in die Vergangenheit.
»Ich glaube, daß die 115.000 dazu benutzt worden sein müssen, ein Schiff zu chartern. Ich glaube, daß 1966 jemand unter dem Deckmantel der Kryolithgesellschaft zwei Expeditionen an die Westküste geschickt hat.«
Ich halte den Atem an. Ihre Aufrichtigkeit und der Bruch einer lebenslangen Loyalität, das ist ein empfindlicher Augenblick.
»Das Ganze kann nur einen denkbaren Zweck gehabt haben. Zumindest kann ich mir nach fünfundvierzig Jahren in der Gesellschaft keinen anderen Zweck vorstellen. Man wollte etwas nach Dänemark zurücktransportieren, und zwar etwas Schweres, so daß man dazu ein Schiff brauchte.«
Ich lege mir mein Cape um. Das schwarze mit der Kapuze, in dem ich aussehe wie eine Nonne und das, so hatte ich mir vorgestellt, zum Anlaß meines Besuches passen würde.
»Der Carlsbergfonds hat 1991 einen Teil der Expedition bezahlt. In seinen Büchern taucht ein Honorar für eine gewisse Benedicte Clahn auf«, sage ich.
Sie starrt träumerisch in die Luft, während sie ihre komplette, fehlerfreie innere Buchhaltung durchblättert.
»1966 auch«, sagt sie langsam. »267 Kronen als Übersetzerhonorar. Einer der Posten, für die ich ebenfalls keine Erklärung erhielt. Aber ich erinnere mich an sie. Sie war eine Bekannte des Leiters. Sie hatte in Deutschland gewohnt. Ich hatte den Eindruck, sie kannten sich von 1945 her, aus Berlin. Unmittelbar nach Ende des Krieges verhandelten die Alliierten in Berlin über eine Aufteilung der Aluminiumversorgung. Mehrere Leute der Gesellschaft waren in diesen Jahren häufig in Deutschland.«
»Zum Beispiel?«
»Ottensen. Der Verkaufsleiter. Und der Konferenzrat.«
»Sonst noch jemand?«
Sie ist groggy nach so viel Reden und Herzausschütten, und das möglicherweise in die Gosse. Sie denkt angestrengt nach.
»Ich erinnere mich nicht, von anderen gehört zu haben. Ist das wichtig?«
Ich zucke die Achseln. Sie packt mich. Sie kann mich fast hochheben.
»Der Tod des kleinen Jungen. Was haben Sie sich vorgestellt?«
Dänemark ist eine hierarchische Gesellschaft. Sie findet einen Fehler und beschwert sich bei ihrem Chef. Sie wird abgewiesen. Sie beschwert sich beim Aufsichtsrat. Sie wird abgewiesen. Doch über dem Aufsichtsrat sitzt der liebe Gott. An ihn hat sie sich im
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